ZIONISMUS
Er bleibt ein laufender Prozess, der vereint und polarisiert. Im Alltag spielt der Begriff aber keine große Rolle mehr
Mit der Staatsgründung vor 60 Jahren war das Ziel des politischen Zionismus erreicht. In Israel können die Juden selbst ihr Schicksal bestimmen, eine Entwicklung, die unabhängig von der jüdischen Diaspora verläuft, aus der die zionistische Bewegung kommt. Aufbau wie Verteidigung dieses Staates wird weithin nicht allein als neues, sondern auch als getrenntes Kapitel jüdischer Geschichte gesehen.
Aber waren wirklich alle Ziele erreicht? Sogar die Staatsgründung war als Ziel in der zionistischen Bewegung umstritten. Theodor Herzls Wunsch, durch die Gründung einer Heimstätte für Juden den Antisemitismus aus der Welt zu schaffen, hatte drei Jahre nach Ende des Holocaust nicht einmal mehr als Illusion Bestand. Seine Vorstellung, der Judenstaat solle aus den Juden ein "normales" Volk machen, stellte sich gerade nach der Staatsgründung verstärkt in Frage. Sie war bereits in den Jahrzehnten vor der Staatsgründung umstritten. Was ist schon normal für einen Staat, der seine Bürger aus allen Ecken der Welt zusammenholt?
Eine Debatte mit offenem Ende, die Gegnern wie Sympathisanten der zionistischen Idee oft unverständlich bleibt. Gerade in Deutschland wird der Zionismus vielfach verkürzt als politische Ideologie verstanden, wobei seine wichtigste Aufgabe übersehen wird: Die Schaffung einer Kultur. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt Moses Hess einen zukünftigen Staat mit militärischen und erzieherischen, vor allem aber kulturellen Einrichtungen. Sieben Jahrzehnte vor der Staatsgründung wurde darüber gestritten, ob ein Staat für die Schaffung einer modernen jüdischen Kultur Voraussetzung oder allein deren Ergebnis sein kann. Unbestritten war die Schaffung einer unabhängigen, säkularen Kultur als eigentliches Ziel jüdischer Befreiung.
Bis in die 30er-Jahre hinein kämpften die Juden im britischen Mandatsgebiet Palästina nicht für den eigenen Staat, sondern für freie Einwanderung. Es ging um die Schaffung einer eigenständigen Gesellschaft. Ein Staat galt dafür nicht als unverzichtbare Voraussetzung. Hätte die arabische Führung in den 30er-Jahren eine Parallelgesellschaft der jüdischen Einwanderer hingenommen, hätten der Nahe Osten wie auch der Holocaust einen anderen Verlauf nehmen können. In der Verweigerung durch die Umwelt sind nicht nur die Ursachen des Zionismus zu suchen, sie beeinflusste seine Entwicklung und beeinflusst sie in der Gegenwart sogar in wachsendem Maße.
Kultur und Politik sind nicht die einzigen Spannungspunkte im Zionismus. Eine Folge dreier Kriterien, die dem Judentum seit eh und je zugrunde liegen und deren gleichzeitiges Auftreten westlichen Vorstellungen unverständlich anmutet: Ethnik, Religion und Nation. Alle drei unterlagen im 19. Jahrhundert einer wachsenden Säkularisierung und Modernisierung. Es waren entscheidende Veränderungen, die über eine gescheiterte Emanzipation innerhalb Europas und letztlich auch der Unmöglichkeit einer vollen Assimilation zum Zionismus führten. Als Befreier aus religiösen Fesseln, der aus religiösen Quellen trank. Ein moderner Staat war das Ergebnis, der bis heute nicht die vollständige Trennung von Staat und Religion vollziehen konnte.
Fast jeder Bereich des israelischen Alltags liegt bis heute noch irgendwo im Schatten dieser Spannungen. In einem Bereich aber erreichte die Profanierung eine Vollständigkeit, die jeden Streit hinter sich ließ: Das Hebräische ist Israels Sprache und war schon Motor beim Aufbau einer modernen jüdischen Kultur lange vor der Staatsgründung. Dabei war auch das Aufleben des Hebräischen umstritten und keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der voluntaren Gesellschaft der ersten zionistischen Einwanderer am Ende des 19. Jahrhunderts.
Aber schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war das Hebräische zu einer "eingeborenen Kultur" herangewachsen. Lange noch parallel zu anderen Gruppen in der jungen Gemeinde der Einwanderer, letztlich aber gegen viele Widerstände als Landessprache durchgesetzt - von den Kindern der ersten Schulen entschiedener als von ihren Lehrern. Ausgerechnet die Gründung des Staates Israel schränkte ihr Monopol ein. In Israel ist neben Hebräisch auch Arabisch gesetzlich anerkannte Landessprache. Drei Kulturen leben nebeneinander, jede mit zahlreichen Subkulturen. Von der hebräischen Kultur getrennt leben die jüdisch-orthodoxe und die arabische Kultur. Beide aber leben nicht getrennt von der hebräischen Sprache. Die Sprache der Mehrheit hat damit auch in den beiden benachbarten Kulturen breiten Raum eingenommen. Aber ihre "israelisierende" Wirkung ist dort, vor allem in der arabischen Welt, sehr viel beschränkter: eine multikulturelle Gesellschaft mit klar getrennten Bereichen unter einem hebräischen Dach. In Israel wird multikulturell gelebt, aber wenig multikulturell gedacht. Wenn es das Ziel einer Schmelztiegelgesellschaft je gegeben hat, - was umstritten ist - kann davon heute nicht mehr die Rede sein.
Die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und dem Ostblock in den 90-er Jahren kann bis heute ein kulturelles Eigenleben als Subkultur bewahren. Was aber nicht als Verzicht auf eine Integration in die hebräische Kultur zu verstehen ist. Diese ist in der Gegenwart stark genug, um auf direkten Druck zu verzichten. Die Einwanderer regeln weitgehend selbst die Geschwindigkeit ihrer Eingliederung. Für die zahlenmäßig ebenfalls beträchtliche Gruppe der Einwanderer aus Äthiopien wirkt der Mangel an Eingliederungsdruck als soziale Bremse.
Sah Israels Schmelztiegeltheorie die hebräische Kultur einseitig als allein konstituierenden Rahmen, kam es bei den nachfolgenden neuen Historikern zu einseitigen Folgerungen. Sie deuteten die Fehler des jungen Staates in seinen Aufbaujahren als Kulturdiktatur, trotz aller subkulturellen Besonderheiten, die sich bis heute erhalten, entwickeln und auch neu bilden. Eine Sichtweise, die oft als Postzionismus bezeichnet wird, was aber auch unter den neuen Historikern umstritten ist.
Eine Randgruppe unter den Postzionisten folgert aus ihrer Arbeit die gezielte politische Forderung nach einer Entzionisierung Israels, eine Art "Gegenideologie" zum Zionismus. Andere sehen eine Entzionisierung als natürliche Folge der Staatswerdung, die in breiten Teilen der israelischen Gesellschaft schon weit fortgeschritten ist. Zionismus als Ideologie, die sich auch ohne Gegenideologie selbst überlebt. Der Historiker Moshe Zimmermann verlagert den Begriff Postzionismus weg vom linken zum rechten Gesellschaftsrand. Für ihn sind die religiös-nationalen Siedler in den besetzten Gebieten Postzionisten, die den Anschluss an die säkular geprägte zionistische Bewegung verspätet fanden und unter anachronistischer Beschränkung auf eine religiös motivierte Siedlungstätigkeit auslegen. Der Schriftsteller Tom Segev sieht Entzionisierung als kulturelle Entwicklung und Amerikanisierung. Ähnlich anderen westlichen Staaten stehe Israel unter dem Einfluss der Globalisierung.
Von Anfang an richtete sich Israel an westlichen Vielvölkervorbildern aus, ohne dabei ein Modell vollständig zu übernehmen. Besonderheiten wurden zum Teil abgebaut, aber auch beibehalten. Expertenkommissionen fordern eine entschiedenere Trennung von Religion und Staat wie auch eine Stärkung der kulturellen Autonomie für Araber und Strenggläubige Juden, mit einer pluralistischeren Öffnung der Gesellschaft in Richtung der wichtigen Subkulturen. Im Vergleich zur Gegenwart fordern sie eine multikulturellere Zukunft mit einer praktizierteren Gleichberechtigung von Minderheiten, die heute in allzu vielen Bereichen im Deklamatorischen stecken bleibt, trotz aller spürbaren Fortschritte. Multikulturalität nicht nur als gelebte Tatsache, sondern auch als Entwurf, der aber an der Ausrichtung Israels zur westlichen Welt hin seine Grenzen findet. Sie gilt in Israel als unabdingbare Voraussetzung für die Sicherheit des Staates.
Zwischen den Widersprüchen vom Schmelztiegel bis zum Postzionismus zeichnet sich eine Entwicklung ab, die zwischen inneren Widersprüchen und äußerer Bedrohung einen Mittelweg sucht. Selbstbestimmung, Fortschrittsbewusstsein und hoher Ausbildungsstand können als Kriterien nicht nur im israelischen Selbstbild gefunden werden. Im Unterschied zu den meisten westlichen Staaten hat in dieser Gesellschaft die Familie aber einen hohen Stellenwert. Entstanden ist eine fortschrittliche Gesellschaft, die auf eine demokratische und säkulare jüdische Kultur nicht verzichten will. Die Suche nach ihr begann sieben Jahrzehnte vor der Staatsgründung Israels und wird auch im siebten Jahrzehnt danach kein Ende finden. Das Recht auf diese Suche und dessen Verteidigung ist Zionismus heute.
Der Autor ist Korrespondent der Zeitung "Die Welt".