KNESSET
Das israelische Parlament spiegelt die Zerrissenheit der Nation wider
Die Knesset, das israelische Parlament, ist
mindes
-tens genauso ein zentraler und von vielen Orten sichtbarer Bau
für Jerusalem wie der Reichstag für Berlin. Ein wenig
höher gelegen als einige Ministerien nebenan, thront der
flache, moderne Bau auf einer Hügelkuppe.
Wer die Sicherheitsmaßnahmen nicht scheut, kann sich in der "Staatshalle" die berühmten Teppiche des Künstlers Marc Chagall ansehen, die die biblische Verheißung an das Volk Israel mit dem modernen Staat verbindet. Er wird dabei freilich auch ein Haus im Umbau finden; ein Symbol für die weiter an sich arbeitende israelische Demokratie. Der Name des Parlaments geht auf die "große Knesset", die große Versammlung, der Heimkehrer aus der babylonischen Gefangenschaft im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurück.
Gerne wird Israel als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet. Tatsächlich haben die 120 Abgeordneten schon mehrfach Regierungen gestürzt.
Das Parlament ist so zerrissen wie die israelische Nation. Wie in anderen Parlamenten gelingt es auch hier der Mitte immer schlechter, Mehrheiten zu gewinnen. Die traditionell "großen Parteien", die "Arbeitspartei" in der linken Mitte, die bis 1977 Israel beherrschte, und der "Likud" von der rechten Mitte werden immer kleiner.
Die traditionell kleinen Parteien - in Israel sind das vor allem religiöse Fraktionen und die Nationalisten sowie die Gruppe der arabisch-israelischen Abgeordneten - haben in der Knesset mehr Gewicht als ihnen bei ihrem Anteil in der Gesellschaft zusteht. In diesen Tagen haben die Abgeordneten der Knesset nach den Umfragen keinen besonders guten Ruf, gegen acht Mitglieder des Hauses gebe es gerichtliche Verfahren vor allem wegen Korruption, berichtet die Presse. Armee, Oberstes Gericht und Regierung stehen besser da.
Um so beliebter ist die Vorsitzende des Hauses, Dalia Itzik. Diese 1952 geborene Politikerin aus Jerusalem gehörte die längste Zeit ihrer politischen Karriere zu Arbeitspartei. Dann aber wechselte sie mit dem heutigen Präsidenten Schimon Peres zu der von Expremier Ariel Scharon 2005 gegründeten "Kadima". Scharon fiel Anfang 2006 ins Koma und bei den Wahlen konnte sein Nachfolger Ehud Olmert nur mit einer im Hinblick den Erwartungen geschrumpften Fraktion ins Plenum ziehen. Der früheren stellvertretenden Bürgermeisterin von Jerusalem aber, Dalia Itzik, schadete das nicht.
Neben Dalia Itzik ist mutmaßlich nur noch die Knesset-Cafeteria geeignet, die sich aufs heftigste bekämpfenden Deputierten der Knesset zu vereinen. Dorthin, wo einst mit Falafel und Bier Ministerpräsident Scharon die Arbeitspausen verbrachte, zieht es alle Abgeordneten. Auch die wiederum unter sich zerstrittenen Deputierten der israelisch-arabischen Fraktionen, die meist etwa zehn Prozent der Abgeordneten stellen. Diese Abgeordneten wollen lieber nicht an "60 Jahre Israel" erinnert werden - sie sind Palästinenser. Sie wollen keinen "jüdischen Staat", sondern einen "demokratischen Staat aller Bürger".
Vor Jahren noch wurde die arabische Minderheit in der Knesset immer israelischer und setzte auf Integration. Seit der "zweiten Intifada" fühlen sich die israelischen Araber wieder eng mit den Palästinensern verbunden. Mutmaßlich gibt es aber einen Unterschied zwischen den Abgeordneten und ihrer Klientel. Auch wenn die Wut vieler israelischer Araber gegen die vermeintliche "faktische wie rechtliche Ungleichbehandlung" wuchs, sehen doch die meisten israelischen Araber in Israel weiterhin ihre Heimat.
Manche Abgeordnete aber reisen gegen das Verbot in "Feindländer", nach Syrien oder Libanon; unterstützen womöglich die schiitische Hizbollah, die Israel bekämpft. Da macht sich bemerkbar, dass die israelischen Abgeordneten keine Wahlkreise vertreten und sich deswegen auch nicht direkt lokalen Wählern verbunden fühlen. Ihnen geht es oft mehr um politische Schlagzeilen, ideologische Auseinandersetzungen als um Politik für ihre Wähler oder gar um Sportplätze in ihren Heimatgemeinden.
Die ultraorthodoxen religiösen Parteien, die orientalische Shas-Partei mit ihren 12 Mandaten und die Vereinte Thora-Fraktion mit sechs Abgeordneten, machen keinen Hehl daraus, dass ihnen ihre religiösen Belange wichtiger sind als der Staat; die "Matzot" - das ungesäuerte Brot zu Pessach oder die Unterstützung für kinderreiche Familien sind wichtiger als die säkulare Demokratie: Die Thora ist für sie Gesetz. Gleichwohl sind die Stimmen dieser Parteien bei der Koalitionsbildung oft das "Zünglein an der Waage". Und noch etwas schwächt die derzeit zwölf Parteien starke Knesset: Wichtiger als Partei und Programm werden immer mehr die Parteiführer. Ohne den früheren Strategieminister Avigdor Liebermann ist die nationalistische "Yisrael Beytenu" nichts; Rabbi Ovadia Josef und seine Söhne bestimmen von draußen den Kurs von Shas in der Knesset.
Das Zentrum der israelischen Politik liegt nicht in der Knesset, sondern bei der Regierung. Debatten werden im israelischen Parlamentsfernsehen übertragen, aber sie sind nur selten von Bedeutung. Führt man sich vor Augen, wie oft die Knesset mit ihren Entscheidungen populistische Trends spiegelt oder die Regierung schwächen will, wie dabei auch das israelische Recht gekrümmt wird und das oberste Gericht eine viel stärkere Korrekturfunktion einnimmt als die obersten Gerichte in anderen Ländern, so wird deutlich, warum sich die Knesset aus dem Zentrum der israelischen Politik herausmanövriert hat.
In den ersten 60 Jahren konnte die Knesset noch keinen demokratischen Konsens jenseits der religiösen oder nationalen Gegensätze schaffen. Womöglich wird das immer schwerer, wenn angeblich jetzt schon 45 Prozent der Erstklässler in Israel entweder ultraorthodox oder Araber sind, also "Anti-Zionisten", die das Bekenntnis zum säkularen demokratischen Staat ablehnen. Wegen der zunehmend starken Differenzen scheint es immer unwahrscheinlicher, dass in dieser Knesset eine Verfassung verabschiedet wird, die genauso Rücksicht auf die religiösen Ideale in der Thora nimmt wie auf die säkular-demokratischen Vorstellungen der israelischen Mehrheit. Die israelische Gesellschaft will eine Verfassung; aber die Verfassungsväter sitzen nicht in der Knesset.
So wie die Teppiche von Marc Chagall in der Staatshalle mit ihrem Garn die religiöse Tradition und die zionistische Gründergeschichte miteinander verknüpfen, so pflegt die Knesset vorbildlich die Tradition des jungen Staates - und ist dabei auch ein Spiegel des Wandels.
Der Autor ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Israel.