FILM
Früher war er dem Zionismus verpflichtet. Heute thematisiert er nicht nur Krieg und Gewalt, sondern auch Alltag
Als Nir Bergman auf der Berlinale 2003 mit seinem Film "Knafayim Shvu-rot" (Broken Wings, 2002) debütierte, wies er der junge Regisseur auf einen seiner Meinung nach symbolhaften Umstand hin: In seinem Film stirbt der Vater der kleinen Familie - höchst banal - am Stich einer Biene. Die Tatsache, dass der Protagonist nicht in einem Krieg gefallen war, brachte zum Ausdruck, dass sich das neue, junge israelische Kino von heroischen Leitbildern abkehrte und damit auch von den großen Themen: Politik, Krieg, dem Dauerkonflikt mit den Palästinensern sowie mit dem Thema der Shoa. Durchaus überzeugend trat Bergman damals als Vorreiter eines neuen Trends an. Aber nur wenige Jahre später errang der kaum ältere Joseph Cedar ausgerechnet mit dem Kriegsdrama Beaufort (2007) in Berlin einen Silbernen Bären und 2008 gar eine Oscar-Nominierung - eine Ehre, die seit 1984 keinem israelischen Film mehr zuteil geworden war.
Wa seine These vielleicht etwas gewagt? Natürlich spielte seine Behauptung mit den klischeehaften Erwartungen, die Israel bis heute - gerade von Seiten vieler Medien - vor allem auf seinen blutigen Konflikt mit den Palästinensern reduzieren. Das israelische Kino ist jedoch bei Weitem sehr viel facettenreicher als die Fernsehberichterstattung. Es vermittelt Innenansichten der israelischen Gesellschaft, die weit über eine patriotische Heldenerzählung hinausgehen.
Die Anfänge und Vorläufer des israelischen Kinos waren allerdings durchaus in hohem Maße von der zionistischen Idee geprägt. Unter schwierigsten Produktionsbedingungen entstanden schon im Yishuv - also in der Zeit vor 1948 - Filme, deren Ziel und Auftrag es war, eine Gemeinschaft im In- und Ausland auf die jüdische Besiedlung Palästinas einzuschwören, Spendenmittel zu sammeln und vor allem für die Einwanderung zu werben. Gelegentlich abfällig als Nationalfonds-Filme bezeichnet, weil sie meist im Auftrag zionistischer Organisationen produziert wurden, stellten diese Filme das zionistische Projekt und seinen Helden, den neuen Hebräer, ins Zentrum.
Filmemachen im Yishuv war eine Sache für enthusiastische Pioniere. Auch nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 in Israel blieb es ein mühsames Geschäft. Der junge Staat hatte andere Probleme als den Aufbau einer Filmindustrie. Unter den wenigen Spielfilmen der 1950er-Jahre, die für das deutsche Publikum die erste Begegnung mit israelischem Kino wurde, ragt einer heraus: Thorold Dickinsons Episodenfilm "Hill 24 Doesn't Answer" (1954). Er spielt in den letzten Stunden des Unabhängigkeitskrieges und fasst die wichtigsten Argumente zionistischer Agitation geschickt zusammen. Gleichzeitig verdeutlicht er die Alternativlosigkeit jüdischer Existenz in Israel nach der Shoa.
Ästhetisch wie inhaltlich waren Filme wie Filmemacher jener Periode den Dogmen des "zionistischen Realismus" verpflichtet. Das änderte sich erst in den 1960er-Jahren. Die massive Einwanderung und die sprunghaft gestiegene Bevölkerungs- und damit auch Zuschauerzahlen sowie steuerliche Vergünstigungen ermöglichten den Produzenten erstmals ein profitables Arbeiten. Die Produktionszahlen stiegen daher sprunghaft an. Zuerst kam ein populäres Unterhaltungskino in Schwung, das mit Namen wie dem des populären Satirikers Ephraim Kishon oder dem Menahem Golans verbunden ist. Dessen selbstbewusstem Statement "I am the industry". wird nicht jeder beipflichten. Aber es besteht wohl kein Zweifel, dass Golan die israelische Filmlandschaft als Regisseur und Produzent nachhaltig beeinflußt hat. Unbestritten gilt er als Vater der sogenannten "Bourekas". Ursprünglich die Bezeichnung für ein billiges, im Orient verbreitetes Kleingebäck, wurde das Wort zum Synonym für populäre Filme. Gleichzeitig bezeichnete es auch so genannten Ethnokomödien, die den real vorhandenen Konflikt zwischen Aschkenasim und Sephardim thematisierten und in sozialromantischer Manier zu einer utopischen Lösung führten. Es gibt viele Gründe dafür, dass die aus orientalen Ländern eingewanderten Juden sich im selbsternannten "Schmelztiegel der Kulturen" diskriminiert fühlten. Stereotypisch für das Lösungsmuster der Bourekas ist das erste israelische Filmmusical "Kazablan" von Menahem Golan aus dem Jahr 1973: Der am Anfang verkannte Titelheld, dessen Spitznamen auf seinen Geburtsort Casablanca verweist, bekommt am Ende die schöne Tochter seiner aschkenasischen Nachbarn und steigt vom gefürchteten Anführer einer Gang von Rowdies zum ehrbaren und geachteten Bürger auf. Die Bourekas-Filme - von der Kritik geschmäht - waren ein wichtiger Meilenstein. Endlich hielt das Alltagsleben Einzug ins Kino: mit Familie und jüdisch-traditioneller Lebensweise, mit kleinen Streitereien und großer Liebe, mit Feiertagen, Geburten, Hochzeit und Tod.
Einen völlig anderen Weg ging das zeitgleich entstandene Autorenkino: Am Straßenrand ein Mann im dunklen Anzug, unter gleißender Sonne, mitten in der Wüste. Neben sich einen Schaukelstuhl, ein Goldfischglas, einen Papageienkäfig - und in der Ferne entschwindet der Autobus. Nicht unbedingt ein vielversprechender Start für den Einwanderer Tzelnick, aber ein grandioser Auftakt für das neue Kino, das Uri Zohar mit "Hor BeLevanah" (Hole in the Moon) im Jahr 1965 einläutete.
Die Tatsache, dass ein Filmemacher in Israel die Sprache des Kinos ins Zentrum seiner Arbeit stellte, war dabei ein Novum. Damit wurde Zohar zum Vorreiter einer neuen Generation junger Regisseure: Igal Bursztyn, Avraham Heffner, Judd Ne'eman, David Perlov, Dan Wolman und andere brannten darauf, Einflüsse des Neorealismus, der franzöischen Nouvelle Vague und anderer kinematografischer Erneuerungsbewegungen in den lokalen Kontext einzubringen. Das dominierende Thesen- und Themenkino interessierte sie nicht.
Während Zohar sich zumindest in seinem ersten Film noch an den geltenden Konventionen abgearbeitet hatte, war für diese Regisseure Film zunächst und in erster Linie persönliches Ausdrucksmittel. Dabei blieben sie am Puls der Zeit und bewiesen teilweise prophetische Weitsicht. Während das Mainstreamkino zum Beispiel die kollektive Euphorie nach dem triumphalen Sieg im Sechs-Tage-Krieg von 1967 noch weiter anheizte, reflektierte ein Film wie "Matzor" (Siege) von Gilberto Tofano bereits 1969 über die mentalen Schäden, die Israel in diesem Krieg davongetragen hatte. Und Avram Heffners "Le'an Ne'elam Daniel Wax" (But Where Is Daniel Wax) nahm schon 1972 die Desillusionierung vorweg, die auf den Yom-Kippur-Krieg 1973 folgen sollte.
Dieser Krieg war es auch, der Filmemacher in den 1980er-Jahren zu politischen Themen zurückführte. 1977 hatte erstmals eine rechte Regierung in Israel die Macht übernommen, und Künstler, die traditionell mehrheitlich links standen, sahen sich plötzlich in Opposition zur offiziellen Politik. Die Filme von Uri Bara-bash, Nissim Dayan, Shimon Dotan, Eran Riklis oder Dan Wachsman stellten dementsprechend bald die Frage nach dem Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern. In "Haim Buzaglos Nissuim Fiktivim" (Fictitious Marriage) im Jahr 1988 wechselt der Jude Eldad mitten in Tel Aviv durch einen Zufall die Seiten und lebt für eine Weile in der Haut eines palästinensischen Arbeiters. Dieser Rollenwechsel setzt sich fort bis in die Nebenfiguren: Judy träumt von der Auswanderung nach Amerika. Ihrem arabischen Angestellten Bashir verspricht sie, ihn nachzuholen, aber der erwidert: "Ich kann unsere Heimat nicht verlassen."
Wenn in einem israelischen Film der Araber Bashir Tel Aviv zu seiner Heimat macht, die er nicht verraten kann, ist das eine Verletzung aller Regeln. So wird Nissuim Fiktivim zu einer verrückten Verkehrung all dessen, was das israelische Kino in seinen Pionierjahren ausgemacht hatte.
Während aber Buzaglo seinem Film zumindest einen optimistischen Ausklang gibt, treibt Assi Dayan in HaChayim "Alpi Agfa" (Life According To Agfa) im Jahr 1992 den Rollentausch in eine düstere, apokalyptische Vision: Am Ende verwüstet ein verrückt gewordenes Militärkommando ein Café mitten in Tel Aviv so, als habe sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gejagt. Wie nah Dayan mit diesem Bild der Selbstzerstörung Israels der Realität kam, erwies sich 1995, als mit der Ermordung Jitzhak Rabins das Unvorstellbare wahr wurde.
Kino in Israel war immer ein Seismograph der Verhältnisse in Politik und Gesellschaft. Wenn sich aktuelle Filme nicht nur mit Krieg und Gewalt, sondern auch mit kultureller wie sprachlicher Vielfalt, mit sozialen Fragen, mit Säkularität und Religiosität befassen, so zeigt das, dass die brennenden Fragen, die Israel beschäftigen, heute breiter gestreut sind denn je.
Der Autor ist Filmwissenschaftler
und Kurator von Filmprogrammen.