Reichstagsgebäude am Königsplatz
Um das nach dem Entwurf und unter der Leitung des Oppenheimer Architekten Paul Wallot errichtete Reichstagsgebäude ranken sich eine Reihe von Legenden. Zu ihnen gehört auch die Erzählung, dass es einer kaiserlichen Intervention geschuldet sei, dass der monumentale Parlamentsbau nicht im Zentrum Berlins, sondern am Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, und damit in einer "Randlage" errichtet wurde. Wahr ist an dieser Legende nur, dass der Reichstag des Kaiserreichs auch in einer Frage nicht frei entscheiden konnte, die mit der Wahl seines Sitzes seine genuinen Interessen berührte. Exemplarisch lassen sich anhand der Baugeschichte des Reichstagsgebäudes und insbesondere der Suche nach einem angemessenen Standort sowohl das komplizierte Webmuster der Verfassung als auch eine Reihe von Grundproblemen des Parlamentarismus des Kaiserreichs veranschaulichen.
Standortsuche
Obwohl der Grundsatzbeschluss zum Bau eines "würdigen Reichstagshauses" vom Parlament bereits am 19. April 1871 gefasst wurde, konnte der Grundstein erst am 9. Juni 1884 gelegt werden. Ursache hierfür war vor allem, dass der Reichstag, die von ihm eingesetzte Baukommission und die Reichsleitung rund zehn Jahre über einen angemessenen Bauplatz stritten und sich wechselseitig blockierten. Innerhalb des Parlaments standen sich mit den Nationalliberalen und der Zentrumspartei zwei Fraktionen gegenüber, die mit der Errichtung des Parlamentsbaus sehr unterschiedliche Konzepte verbanden. Wollten die Nationalliberalen mit dem Reichstagsgebäude der Reichsgründung ein monumentales Denkmal setzen, sprach sich das Zentrum für einen schlichten und funktionalen Parlamentsbau aus, der auch in die geschlossene Bebauung einer Straßenfront eingereiht werden konnte.
Für die Nationalliberalen, die bis zu den Wahlen von 1881 die stärkste Reichstagsfraktion stellten, kam hingegen nur ein Bauplatz infrage, der eine Freistellung und gute Sichtbarkeit des Reichstagsgebäudes ermöglichte. Die Wahl der Baukommission, in der sie mit Unterstützung der Sachverständigen bestimmenden Einfluss geltend machen konnten, fiel mit dem Königsplatz rasch auf einen Stadtteil, von dem der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Victor von Unruh annahm, dass er "unfehlbar in kaum einem Dezennium einer der großartigsten und bedeutendsten von Berlin" sein würde. Von einer "Randlage" kann folglich keine Rede sein.
Doch die Bebauung der Ostseite des Platzes scheiterte zunächst daran, dass dieser Teil von König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1841 dem Grafen Atanazy Raczyński zur Nutzung überlassen worden war, der dort nach Plänen des Architekten Johann Heinrich Strack ein Palais errichtet hatte und das Terrain in keinem Fall zur Verfügung stellen wollte. Die daraufhin von der Baukommission entgegen eines anders lautenden Reichstagsbeschlusses hartnäckig verfochtene und auch von Kaiser Wilhelm I. unterstützte Bebauung der Westseite des Königsplatzes, auf der die sogenannte Krolloper stand, scheiterte am Widerstand der Zentrumspartei. Ihre Reichstagsabgeordneten führten am 5. Februar 1874 nach einer leidenschaftlichen Debatte mit Unterstützung der Konservativen einen Beschluss herbei, der die Voraussetzungen zur Errichtung des Reichstagsgebäude an einem Standort in unmittelbarer Nähe zur alten Porzellanmanufaktur an der heutigen Niederkirchnerstraße schaffen sollte und der von den Nationalliberalen als "Hinterviertel" verspottet wurde. Doch Reichskanzler Otto von Bismarck ignorierte den Beschluss. Möglich war ihm das, weil der Reichskanzler nach der Verfassung des Kaiserreichs nicht vom Vertrauen einer Mehrheit im Parlament abhängig war, sondern von Fall zu Fall mit wechselnden Mehrheiten regieren konnte. Um notfalls auch gegen den Willen Bismarcks einen Parlamentsbau zu erzwingen, fehlte es dem in dieser Frage zerstrittenen Reichstag an dem erforderlichen parteiübergreifenden Konsens.
Erneute Bewegung kam in die Standortsuche erst, als Bismarck nach dem Tod Raczyńskis erfolgreich Verhandlungen mit dessen Erben aufnahm und dem Reichstag 1879 die Errichtung des Parlamentsbaues auf der Ostseite des Königsplatzes an seinem heutigen Standort vorschlug. Aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation vermochte das Zentrum mit einem Hinweis auf die beachtlichen Kosten den Bau noch einmal hinauszuzögern. Erst in seiner Sitzung am 13. Dezember 1881 fasste der Reichstag gegen die Stimmen des Zentrums den endgültigen Beschluss zur Bebauung der Ostseite des Königsplatzes. Für die Vorlage stimmten mit den Nationalliberalen dieses Mal auch große Teile der regierungstreuen Konservativen und die Linksliberalen. Drei Jahre später folgte die Grund-, dreizehn Jahre später, am 5. Dezember 1894, die Schlusssteinlegung. Am 6. Dezember 1894 tagte der Reichstag zum ersten Mal am Königsplatz.
Bauphase und Widmungsfrage
In der mehr als zehn Jahre umfassenden Bauphase wurden rund 32,7 Millionen Ziegelsteine, 30.000 m3 Sandstein und allein für die neuartige Kuppelkonstruktion 320 Tonnen Stahl verbaut. Für die Behauptung, dass die Kuppel des Reichstagsgebäudes Wilhelm I. und seinem Enkel Wilhelm II. aus politischen Gründen zu hoch gewesen sei oder ihnen ihre endgültige Position über dem Plenarsaal missfiel, gibt es keinen gesicherten historischen Beleg. Vielmehr scheinen die Gründe, die schließlich zum Zerwürfnis zwischen Wilhelm II. und Wallot führten, im Persönlichen gelegen zu haben. Galt Ersterem fortan das Reichstagsgebäude als "Gipfel der Geschmacklosigkeit", war dem Oppenheimer Architekten Wilhelm II. nur noch ein "kaiserlicher Gassebube - der immer verblüffend und geistreich sein will, ohne es in Wirklichkeit zu sein." Zu den Legenden um das Reichstagsgebäude gehört auch, dass es Wilhelm II. war, der 1894/1895 die Anbringung der Inschrift "Dem deutschen Volke" über dem Westportal verhinderte. Richtig ist vielmehr, dass sich in der entscheidenden Abstimmung der Baukommission nicht einmal die Reichstagsabgeordneten für die von Wallot favorisierte Inschrift aussprachen. Vielmehr votierte die Kommission mit knapper Mehrheit für die Inschrift "Dem Deutschen Reiche", der aber der Kaiser seine Zustimmung verweigerte. Die Sache verlief im Sande und wurde erst im Jahr 1916 entschieden, als die Reichsleitung mit ihrer Zustimmung zu der Inschrift "Dem deutschen Volke" in der Ausnahmesituation des Ersten Weltkrieges einer erneuten Diskussion um eine Widmung des Gebäudes vorbeugen wollte.
"Passt beinahe für jedes Residenzschloss"
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte die Errichtung und Ausschmückung des Reichstagsgebäudes den beachtlichen Betrag von rund 31,5 Millionen Mark gekostet. Finanziert wurde diese Summe durch einen im Jahr 1873 eingerichteten Fonds, mit dem man 24 Millionen Mark französischer Kriegskontributionen für die Errichtung eines Parlamentsbaus zurückgelegt hatte und der in den folgenden Jahren auf rund 30 Millionen Mark angewachsen war.
Im Vergleich mit dem Provisorium in der Leipziger Straße herrschten für die Parlamentarier am Königsplatz nicht in jeder Hinsicht bessere Arbeitsbedingungen. Auf der Plenarebene befanden sich nun zwar großzügig bemessene Räumlichkeiten für die Bibliothek, doch fehlten auch in dem neuen Parlamentsbau Büros. Erst 1912/1913 erhielten die Parlamentarier eigene Arbeitszimmer, als man den Dachstuhl des Reichstagsgebäudes ausbaute und dort rund 100 kleine Büros unterbrachte, die sich die Reichstagsabgeordneten teilten.
Deutlich unterschied sich das neue Reichstagsgebäude jedoch in seiner Ausschmückung vom Parlamentsbau in der Leipziger Straße. "Was bis jetzt an Emblemen und Verzierungen hier eingerichtet ist", so klagte 1895 der linksliberale Abgeordnete Eugen Richter, "passt beinahe für jedes Residenzschloss und jede Ruhmeshalle. Vergeblich sieht man sich danach um, wo der individuelle Charakter des Hauses als Werkstätte der Gesetzgebung, als Platz für die Volksvertretung eigentlich zum Ausdruck gebracht ist". Selbst im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes wurden keine parlamentshistorischen Bezüge hergestellt, was seinen Grund allerdings darin hatte, dass die Fraktionen sich nicht auf ein entsprechendes Bildprogramm einigen konnten. Ein im November 1908 an der Stirnseite des Plenarsaals angebrachtes Gemälde des Sezessionisten Angelo Jank zeigte dann in seinem Mittelfeld nicht etwa die Volksvertretung, sondern die Siegesfeier der Schlacht von Sedan. Schon Anfang 1909 wurde es wieder entfernt und nicht mehr ersetzt - der Plenarsaal blieb schmucklos. Den zentralen Fluchtpunkt des Bildprogramms bildete im Reichstagsgebäude deshalb ein Standbild, das im Kuppelsaal der Wandelhallenrotunde auf dem Schlussstein aufgestellt wurde. Es zeigte Wilhelm I., der die Verfassung des Deutschen Reiches in den Händen hielt. Für einen zeitgenössischen Besucher, der das Parlamentsgebäude durch das mit den Wappenbäumen der deutschen Staaten geschmückte Westportal betrat und auf dieses Standbild traf, konnte kein anderer Eindruck entstehen: Das Deutsche Reich war nicht durch das nationale Einheitsstreben des deutschen Volkes, sondern durch den Ratschluss deutscher Fürsten unter Führung der Hohenzollern entstanden.