Eltern, die sich hinaustrauen aus den sorgsam abgetrennten Kinderreservaten, stoßen hierzulande rasch auf eine alltägliche subtile Ausgrenzung, auf ganz gewöhnliche Szenen im Umgang mit einer fremd gewordenen Minderheit: die genervten Blicke der Tischnachbarn im Restaurant, wenn Kinder fröhlich mit Löffeln und Gabeln aufeinander losgehen, und dazu der hilflose Gesichtsausdruck des Gastronomen, der um seinen Umsatz und die gute Laune seiner Gäste fürchtet.
Ja doch: Wir Deutsche leben in einem geteilten Land. Aber nicht Ossis und Wessis stehen sich dabei in erster Linie gegenüber: Die viel tiefere Kluft verläuft zwischen Familien oder Alleinerziehenden mit Kindern – und den Kinderlosen auf der anderen Seite des kulturellen Grabens. Die Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien haben sich über Jahrzehnte für diesen Konflikt nicht interessiert. Höchstens wenn vom angeblichen „Krieg der Generationen“ die Rede war, gelangte das Kinderthema bis in die Talkshows. Aber bei diesen Erregungssendungen suchten lediglich ein paar marketingbewusste Jungpolitiker ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. Das Millionenheer der Eltern, das viel Grund zum Aufstand hätte, lässt indes die allgegenwärtige Achtlosigkeit still über sich ergehen.
„Wir sind kein kinderfeindliches, aber ein kindervergessenes Land“, sagte die ausgeschiedene Bundesfamilienministerin Renate Schmidt – ein treffender Befund. Schleichend sind die Kinder aus unserem Alltag und unserem Bewusstsein verschwunden. 1964 kamen noch 1,4 Millionen Kinder in Deutschland zur Welt, heute sind es 700.000. In Riesenschritten entwickeln wir uns von einer Schaukelpferd- zur Schaukelstuhlgesellschaft, und kaum einer hat es bemerkt.
Wie auch? Immer seltener kreuzen sich die Wege von Kindern und Kinderlosen. Während die einen abends in der Kneipe über die neuesten Kinofilme fachsimpeln, verdienen die anderen als Bedienung den Markenanorak für ihre Tochter. Während Politiker abends in Gremiensitzungen den Haushalt aufstellen, lesen Eltern ihren Kindern zu Hause „Hänsel und Gretel“ vor.
Die konsequente Entmischung der Lebenswelten vernichtet menschliches Basiswissen. Vor einer Generation gab es niemanden, der in Fernzügen stoisch und einsam in seinen Laptop hackte. Aber ich meine mich an mehr Menschen zu erinnern, die während der Fahrt neugierig das Gespräch mit Kindern suchten. Und an mehr Erwachsene, die noch wussten, wie sehr sich ein Kind freut, wenn man ihm freiwillig den Fensterplatz anbietet.
In manchen Gegenden des Landes sind Kinder tatsächlich schon verschwunden. Neulich, samstags vor einem Spaßbad östlich von Berlin: In Scharen streben Rentner, Grüppchen gepflegter mittelalter Damen und braungebrannte Singles zum beheizten Wellnessparadies. Auf die Frage nach einem Kinderbecken schüttelt der Herr am Ticketschalter jedoch gleichgültig den Kopf. „Gab es mal“, gibt er knapp zur Antwort, „wurde aber wieder weggerissen – mangels Nachfrage.“
Und dennoch: Eine gesellschaftliche und politische Gegenbewegung setzt sich gerade in Gang. Auf den Rausch der Spaßgesellschaft folgt eine Renaissance von Werten, der Wunsch nach Sinn, Substanz – und Kindern. Seitdem die Wucht der demografischen Umwälzung in die Köpfe dringt, rückt Kinderpolitik auch in der politischen Bedeutungsskala nach oben.
Wirtschaftsführer erkennen plötzlich, dass die dramatisch gesunkene Geburtenrate den Fachkräftemangel der Zukunft auslöst. Junge Politikerinnen und Politiker in allen Parteien drängen darauf, dass Kinderwünsche nicht an veralteten Gesellschaftsbildern scheitern. Dass zudem mit Angela Merkel und Matthias Platzeck zwei gelernte DDR-Bürger die großen Volksparteien führen, erweist sich als unverhoffter Glücksfall. Beide haben mit dem westdeutschen Sonderweg in der Familienpolitik nichts zu schaffen. Berufstätige Frauen, moderne Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen sind für sie eine biografische Selbstverständlichkeit.
Der Weg zur Kinderrepublik Deutschland, in die wir uns um unserer Zukunft willen verwandeln müssen, beginnt mit besseren politischen Rahmenbedingungen für junge Frauen und Männer, die sich Kinder wünschen. Die lebendigen kinderreichen Gemeinden, in denen Bürgermeister und Eltern Kinder in den Mittelpunkt stellen, sind der Beweis. Dort zeigt sich, dass Kinderlachen mehr Lust auf Zukunft macht als jede feurige politische Rede.
Erschienen am 7. März 2006
Ulrich Deupmann, Jahrgang 1965, ist Leiter des Hauptstadtbüros der „Bild am Sonntag“. Er wurde 1994 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Deupmann ist Autor des Buches „Die Macht der Kinder“, erschienen 2005 im S. Fischer Verlag .