Seit Jahren ist es dem Bundestag ein wichtiges Anliegen, bürgerschaftliches Engagement zu fördern. Von 1999 bis 2002 erarbeitete eine Enquete-Kommission Empfehlungen zur Stärkung der Bürgergesellschaft. In der vergangenen Wahlperiode wurde erstmals ein Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ eingesetzt, um diese Empfehlungen umzusetzen. Im März wurde der Unterausschuss erneut konstituiert. über aktuelle Herausforderungen der Bürgergesellschaft und die künftige Arbeit des Unterausschusses sprach BLICKPUNKT BUNDESTAG mit dem Vorsitzenden Michael Bürsch (SPD).
Blickpunkt Bundestag: Herr Bürsch, was bedeutet „bürgerschaftliches Engagement“ eigentlich?
Michael Bürsch: Dieser Begriff beschreibt das Leitbild einer Gesellschaft, in der sich der Einzelne mitverantwortlich fühlt für das, was in unserem Land passiert. Wenn wir die Herausforderungen, vor die wir uns gestellt sehen – Globalisierung, demographische Entwicklung, Reform des Sozialstaats – meistern wollen, brauchen wir eine Art neuen Gesellschaftsvertrag, eine neue Verantwortungsteilung. Wir müssen weg von der Zuschauerdemokratie. Dass die Bürgerinnen und Bürger dem Staat die Lösung aller Probleme aufbürden – mit dem Hinweis, dass sie doch ihre Steuern zahlen und die Gesetze befolgen – wird auf Dauer nicht mehr funktionieren.
Blickpunkt: Heißt das: Jetzt, wo der soziale Kitt brüchig wird, zieht sich der Staat aus seiner Verantwortung zurück?
Bürsch: Nein, das ist mit dem Modell der Bürgergesellschaft nicht gemeint. Der Staat muss und wird weiterhin bestimmte Grundsicherungen gewährleisten. Das bürgerschaftliche Engagement darf kein Ersatz für diese Leistungen sein. Doch die Gesellschaft und auch die Wirtschaft sollten den Staat dabei unterstützen, seine Aufgaben zu erfüllen. Nehmen wir das Beispiel der Rütli-Schule im Berliner Stadtteil Neukölln, die jetzt in die Schlagzeilen geraten ist: Wir werden die Probleme dieser Schule nicht staatlich lösen können, auch nicht mit einem neuen Direktor und einigen Sozialarbeitern. Stattdessen brauchen wir auch hier die Bürgergesellschaft: Alle, die mit der Rütli-Schule zu tun haben – Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, die Gemeinde, der Bezirk, auch die Unternehmen vor Ort –, müssen gemeinsam dafür sorgen, dass dort wieder erfolgreich Unterricht stattfinden kann.
Blickpunkt: Wie könnten lokale Unternehmen Ihrer Meinung nach dazu beitragen?
Bürsch: Indem sie zum Beispiel einen Teil des Ganztagsunterrichts mitgestalten. Oder Betriebspraktika für junge Menschen anbieten, die keinen Abschluss haben. Damit würden sie Fähigkeiten fördern, die nicht unbedingt mit den üblichen Schulmaßstäben gemessen werden, die aber trotzdem anerkennenswert sind. Deutsche Unternehmen geben sehr viel Geld für Spenden und Sponsoring aus. Aber sie tun es oft unsystematisch und ungezielt. Hier sollten Politik und Wirtschaft zusammenwirken, um sicherzustellen, dass sich das Engagement der Unternehmen am gesellschaftlichen Bedarf orientiert.
Blickpunkt: Wie ist es denn insgesamt um das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland bestellt?
Bürsch: Es wird immer wieder behauptet, dass die Zahl derer, die sich bürgerschaftlich engagieren, zurückgeht. Das ist völlig falsch. Unseren Erkenntnissen zufolge engagiert sich jeder Dritte über 14 Jahre. Dieser Prozentsatz ist seit Jahren eine relativ beständige Größe. Was sich allerdings ändert, sind die Formen des Engagements. Für das klassische Ehrenamt ist es offenbar schwieriger geworden, Nachwuchs zu finden. So hat etwa die Freiwillige Feuerwehr Probleme, junge Menschen, die zunächst begeistert in die Jugendfeuerwehr kommen, davon zu überzeugen, auch später in der Feuerwehr aktiv zu bleiben. Andererseits engagieren sich immer mehr Menschen in Selbsthilfegruppen, um sich etwa über eine chronische Krankheit, an der sie leiden, auszutauschen.
Blickpunkt: Die Zugehörigkeit zu einer Selbsthilfegruppe zählen Sie auch zum bürgerschaftlichen Engagement?
Bürsch: Sicher. Bürgerschaftliches Engagement fällt ja nicht unter die Kategorie Nächstenliebe. Viele, die sich engagieren, haben dabei auch im Auge, ob es ihnen persönlich nützt – und das ist völlig legitim. Manche wollen eine verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen, andere möchten sich, etwa im Bereich Informationstechniken, weiterbilden.
Blickpunkt: Der Bundestag hat dem Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ unter Ihrem Vorsitz den Auftrag erteilt, die Empfehlungen der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ umzusetzen. Wie weit sind Sie damit?
Bürsch: Ich denke, wir haben fast die Hälfte der 200 Empfehlungen umgesetzt.
Blickpunkt: Was steht in dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig an?
Bürsch: Wir wollen vor allem das Gemeinnützigkeits- und das Stiftungsrecht einfacher und verständlicher gestalten. Außerdem überprüfen wir alle laufenden Gesetzesvorhaben, ob sie bürgerschaftliches Engagement fördern oder es im Gegenteil behindern. Wir haben nämlich in der Enquete-Kommission festgestellt, dass viele Gesetze unfreiwillig bürokratische Hürden für ein solches Engagement enthalten.
Blickpunkt: Glauben Sie, dass Sie Ihre Arbeit in dieser Legislaturperiode abschließen können?
Bürsch: Natürlich haben wir den Ehrgeiz, die Empfehlungen der Enquete-Kommission weitgehend abzuarbeiten. Allerdings wird sich die Aufgabe, bei Gesetzesvorhaben darauf zu achten, dass sie „engagementverträglich“ sind, immer wieder neu stellen. Und auch unsere dritte Aufgabe wird bleiben: Anlaufstelle beim Bundestag zu sein für alle Fragen, die bürgerschaftliches Engagement betreffen. Wenn etwa ein Verein sich an uns wendet, weil er unter großen bürokratischen Hemmnissen leidet, kann er sicher sein: Wir verfolgen das weiter, wir versuchen, Einfluss zu nehmen.
Erschienen am 24. April 2006
Der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ im Internet: www.bundestag.de/ausschuesse/a13/buerger_eng