Mit dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertész hält zum ersten Mal ein Nobelpreisträger im Bundestag die Rede anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. 1929 in Budapest geboren, wurde Kertész 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Nach Kriegsende begann er zunächst eine journalistische, später eine schriftstellerische Laufbahn, die allerdings von den kommunistischen Machthabern in Ungarn immer wieder behindert wurde. Kertész bekanntestes Werk, Roman eines Schicksallosen, erschien 1975. Der internationale Durchbruch erfolgte Anfang der 90er Jahre mit dem Ende des Kommunismus und des Ost-West-Konflikts. 2002 erhielt Imre Kertész für sein Gesamtwerk, zu dem unter anderem die Romane Fiasko, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Liquidation und — ganz aktuell — Dossier K. gehören, den Nobelpreis für Literatur. Der Schriftsteller lebt in Berlin und in Budapest.
Blickpunkt
Bundestag: Herr
Kertész, Sie halten dieses Jahr im Bundestag die Gedenkrede
am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Warum haben Sie, der doch
eher ein Unbehagen daran hat, eine „verlorene Geschichte zu
beweinen“ — so schreiben Sie es in Ihrem Buch Dossier
K. —, zugesagt?
Imre Kertész: Ich bin Schriftsteller. Und deshalb habe ich
zugesagt unter der Bedingung, dass ich keine Rede halte, sondern
aus einem Roman vorlese. Das ist viel schöner und lebendiger
als eine der üblichen Gedenkreden.
Blickpunkt: Welchen Roman haben Sie
ausgesucht?
Kertész: Ich lese aus meinem Buch Kaddisch für ein
nicht geborenes Kind.
Blickpunkt: Hat auch der Ort des Gedenkens — das
deutsche Parlament — und die Tatsache, dass es bald keine
Zeitzeugen, keine Überlebenden von Auschwitz mehr geben wird,
Ihre sonstige Zurückhaltung gegenüber einer Gedenkkultur
überlagert?
Kertész: Ach, ich habe nichts gegen eine Gedenkkultur,
wenn sie lebendig ist und die Menschen wirklich anspricht. Leider
gibt es inzwischen einen Holocaust-Konformismus; viele Gedenkreden
sind hohl geworden und wirken wie leblose Drucksachen.
Blickpunkt: Was bleibt den nachkommenden Generationen,
wenn es keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt? Verlieren dann
Auschwitz, Buchenwald und die anderen Schreckensorte ihre
furchtbare Singularität, werden sie zu bloßen
Geschichtsorten und -daten?
Kertész: Das hängt weniger von uns Alten, sondern
von den nachfolgenden Generationen ab. Viele jüngere
Künstler haben das Thema ja bereits wieder aufgenommen und
belebt. Einige möchten aber auch gerne den berühmten
Schlussstrich ziehen. Aber wir können es nicht. Weil die
Katharsis ausgeblieben ist.
Blickpunkt: „Erst im Gedächtnis formt sich die
Wirklichkeit“, sagt Marcel Proust. Stimmen Sie dem
zu?
Kertész: Ja, absolut. Aber ich bin nicht Marcel
Proust.
Blickpunkt: Stimmt. Sie sagen auch etwas anderes: Die
Fiktion ist Wirklichkeit. Was bedeutet das in Bezug auf Auschwitz?
Kann Auschwitz nur als Fiktion ertragen werden?
Kertész: Leider war Auschwitz keine Fiktion. Aber auf
Ihre letzte Frage antworte ich mit ja. Auschwitz kann man sich
nicht vorstellen. Das ist eine so demütigende, unmenschliche
Lebensform, dass man selbst als jemand, der das erlebt hat, staunt,
wie man das ertragen konnte. Die physischen Schmerzen und
Veränderungen vergehen; was aber bleibt, sind die
Erinnerungen, die Brüche, die Erlebnisse, die sich zu einer
Fiktion vermischen. Woraus ein Kunstwerk entstehen kann. Zu einem
Kunstwerk aber kann man Auschwitz nicht wieder machen, denn
Auschwitz war kein Kunstwerk. Auschwitz war Wirklichkeit.
Natürlich hat das Kunstwerk, der Roman etwa, seine eigenen
Gesetze. Wenn wir diese Gesetze verlassen, dann können wir
nicht die Wahrheit wiedergeben. Je grausamer die Prosa ist, desto
fremder wird sie für den Leser erscheinen.
„Auschwitz kann man
sich nicht vorstellen. Das ist eine so demütigende,
unmenschliche Lebensform, dass man selbst als jemand, der das
erlebt hat, staunt, wie man das ertragen
konnte.“
Blickpunkt:
Wenn Sie Fiktion, Wirklichkeit und
Wahrheit literarisch vermengen — haben Sie dann nicht Sorge,
den Rechtsextremen in die Hände zu spielen, die Auschwitz nur
zu gerne zur Fiktion, zur Lüge erklären?
Kertész: Ich mache meine Arbeit; was Rechtsextreme
machen, ist ihre Sache. Der Rechtsextremismus kann alles ausnutzen,
was andere schreiben oder formulieren. Würde ich mich an
diesen Leuten orientieren, wäre ich ein Pfuscher, würde
Pfuscharbeit abliefern.
Blickpunkt: Erschreckt Sie das Erstarken der Rechten, etwa
der NPD, in Deutschland?
Kertész: Es ist ein altes Gesetz, dass sich die dritte
Generation gerne wieder mit ihren Großvätern
identifiziert. Aber die teilweise terroristische und
gewalttätige Realität, in der diese Identifizierung
passiert, ist eine Neuerscheinung, die ich als äußerst
unerfreulich empfinde.
Blickpunkt: Sie haben einmal — in Ihrem Roman Fiasko
— geschrieben: „Ich bin ein Medium des Geistes von
Auschwitz“. Was heißt das für Sie?
Kertész: Das heißt, dass nach Auschwitz das
Sehen, Sprechen, Denken anders ist als vor Auschwitz. Für mich
ist Reden nach Auschwitz, musikalisch ausgedrückt, atonale
Prosa. Das bedeutet für mich, dass die Grundbasis nicht mehr
da ist. Die Grundbasis ist eine Kultur, in der die Begriffe
übereinstimmend verstanden werden: Wenn ich sage
„Liebe“, weiß jeder, was ich meine, ebenso bei
„böse“ und „gut“. Diese gemeinsame
Basis, diese gemeinsame Kultur, ist nicht mehr vorhanden. Auschwitz
hat sie zerstört.
„Ich habe nichts
gegen eine Gedenkkultur, wenn sie lebendig ist und die Menschen
wirklich anspricht.“
Blickpunkt:
Stimmt dann nicht Adornos Satz
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist
barbarisch“?
Kertész: Nein, dieser Satz ist eine moralische
Stinkbombe. Denn er bedeutet, dass Adorno die gesamte
europäische Kunst aufgibt. Und ich kann nicht nachvollziehen,
dass ein Geist wie Adorno annehmen kann, die Kunst würde auf
die Darstellung des größten Traumas des 20. Jahrhunderts
verzichten.
Blickpunkt: Herr Kertész, als was empfinden Sie
sich selbst: als Moralist, als Zyniker, als Mahner?
Kertész: Als Überlebender.
Blickpunkt: In Ihrem Hauptwerk sind Sie ein
„Schicksalloser“. Könnte man sagen, dass es gerade
die Aufgabe eines „Schicksallosen“ ist, andere zu
mahnen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen?
Kertész: Wahrscheinlich ist das so. Der Schicksallose
in meinem Roman hat in dem Moment sein Schicksal gemacht, als er
sich auflehnt gegen seine Schicksallosigkeit.
Blickpunkt: In München, mitten in der Stadt, gibt es
seit Kurzem wieder eine Hauptsynagoge. Erfüllt es Sie mit
Genugtuung, dass es offenbar wieder eine Renaissance jüdischen
Lebens in Deutschland gibt?
Kertész: Das hängt davon ab, was für eine
jüdische Kultur das sein wird. In Deutschland gab es ja eine
sehr niveauvolle jüdische Tradition. Von der Krim nach Krakau,
von Russland bis zur Schweiz gab es eine jüdische Kultur, die
einerseits sehr unterschiedlich war, auf der anderen Seite dadurch
geeint wurde, dass Deutsch in diesem Gebiet die internationale
Sprache war.
Blickpunkt: Wie ist Ihre gegenwärtige Stimmungslage?
Sie zitieren in ihrem Dossier K. Jean Améry: „Wer das
Weltvertrauen verloren hat, ist zu ewiger Einsamkeit unter den
Menschen verurteilt.“ Sind Sie ein einsamer Mensch, Herr
Kertész?
Kertész: In dieser Hinsicht bin ich ein einsamer
Mensch, aber ich habe nicht mein Selbstvertrauen aufgegeben. Auch
Améry hat trotz der Peinigungen und Qualen, die ihm die
Nazis angetan haben, nicht ganz aufgegeben. Ich bin auch kein
verzweifelter Mensch, auch wenn es genug Gründe dafür
gäbe, etwa wie Europa leider untergeht, weil es immer weniger
Neigung zeigt, die europäischen Werte zu schützen und
für sie einzustehen. Dennoch schreibe ich weiter.
Blickpunkt: So wie Sisyphos bei Albert Camus?
Kertész:: Ja, ich rolle den Fels immer wieder den Berg
hinauf.
Das Gespräch führte
Sönke Petersen.
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 31. Januar 2007
Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Der 27. Januar ist der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Dieser Tag wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt. Alljährlich begeht der Deutsche Bundestag diesen Tag mit einer Gedenkstunde im Plenarsaal, bei der ein Gastredner zu den Abgeordneten spricht. In diesem Jahr wurde der ungarische Literaturnobelpreisträger und Auschwitzüberlebende Imre Kertész eingeladen. Zudem veranstaltet der Bundestag regelmäßig im Januar eine Jugendbegegnung anlässlich des Gedenktages. 80 bis 100 junge Menschen aus Deutschland, Polen und Frankreich kommen alljährlich zusammen, um sich gemeinsam mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Sie nehmen mit den Abgeordneten an der Gedenkstunde teil und diskutieren anschließend mit dem Bundestagspräsidenten und dem Gastredner die Ergebnisse ihrer inhaltlichen Arbeit.