Festakt zur Eröffnung des
Parlamentarischen Rates im Bonner Museum Koenig am 1. September
1948. Am Rednerpult der hessische Ministerpräsident Christian
Stock (SPD)
© Erna Wagner-Hehmke/HDG
Ein Grundgesetz für
Deutschland
Der Start in eine neue Zukunft beginnt
mit einer Vertreibung: Giraffen, Büffel und andere
ausgestopfte Tiere im Bonner Zoologischen Museum Alexander Koenig
werden hinter Säulen unter großen Vorhängen
versteckt. Denn der große Museumssaal wird für Wichtiges
benötigt: Am 1. September 1948, Punkt 13 Uhr, beginnt hier der
Festakt zur Eröffnung des Parlamentarischen Rates. Neun Monate
später wird dieser Rat das Grundgesetz vorlegen — die
Verfassung des westdeutschen Teilstaates. Seine Verabschiedung ist
die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Und der
Grundstock für eine nun 60-jährige
Erfolgsgeschichte.
Es ist eine illustre Versammlung, die auf den Holzstühlen
Platz nimmt: ehemalige Abgeordnete des Reichstags,
Oberbürgermeister, Professoren, Widerstandskämpfer,
Gewerkschaftsführer. Die Männer und die — wenigen
— Frauen sind festlich gekleidet. Aber vielen Gesichtern sind
die Entbehrungen und inneren Verletzungen anzusehen, die die Zeit
des Nationalsozialismus verursacht hat. Über dem Festakt liegt
eine gespannte Erwartungshaltung. Denn jeder im Saal spürt die
Größe und Bedeutung dieses Tages. Der
Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Karl Arnold (CDU),
der die Festversammlung eröffnet, formuliert diese Erwartung
so:
„Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und dem
festen Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus
für alle Deutschen werden soll. Dieses Haus soll sich in
zäher und mühsamer Arbeit aus den Ruinen unserer
zerstörten Städte und Dörfer erheben, wie sich
deutsches Leben aus seinem Herzensgrund erheben muss zu neuem Leben
und neuer Hoffnung.”
Ruinen, Zerstörung, Hunger, Vertreibung, Unsicherheit —
das ist der Boden, auf dem das Neue entstehen soll. Gerade drei
Jahre ist es her, dass Deutschland seinen tiefsten Fall erfahren,
den Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus mit der
bedingungslosen Kapitulation und der Schmach bezahlt hat, sich mit
Hitlers Völkermord an den Juden aus der zivilisierten Welt
ausgeschlossen zu haben. Die meisten Menschen sind mit dem Kampf um
das nackte Überleben beschäftigt. Und doch regt sich auch
wieder politisches Leben. Vorsichtig, unsicher, zögernd
zunächst, aber doch auch hoffnungsvoll und voller Ideale. Denn
eines eint Sieger, die nun über das in vier Besatzungszonen
geteilte Deutschland herrschen, und Besiegte: Dem Hitler-Staat darf
und kann nur ein friedliches und demokratisches Deutschland folgen.
So entstehen in allen Besatzungszonen wieder politische Parteien
und ebenso Länder, in denen sich das staatliche Leben mit
Landesparlamenten und Landesregierungen neu zu organisieren
beginnt. In den Westzonen ist das Leitbild dieses Neuanfangs eine
föderale, demokratisch-parlamentarische Ordnung. In der
Ostzone hingegen bauen die Kommunisten immer rascher und
konsequenter ein diktatorisches und zentralistisches System auf.
Die Parteien werden bei nur formaler Selbstständigkeit zu
einem sogenannten Demokratischen Block zusammengefasst, die
fünf Länder später aufgelöst und durch Bezirke
ersetzt.
Auftakt des Parlamentarischen Rates:
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold
(rechts), Eröffnungsredner auf der Festversammlung, im
Gespräch mit dem CDU-Abgeordneten Theophil Kaufmann und mit
Fritz Ulrich (SPD), Innenminister von Wür
© Erna Wagner-Hehmke/HDG
Komplizierte Gemengelage
Die eigentlichen Herren über das Nachkriegsdeutschland aber
bleiben die Alliierten. Zunächst arbeiten die USA,
Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion noch zusammen,
doch schon bald bricht die Einigkeit auseinander. Zu groß
sind die ideologischen, politischen und machtstrategischen
Gegensätze unter den ehemaligen Verbündeten. Der
Ost-West-Konflikt entsteht, später geht auf östlicher
Seite ein „Eiserner Vorhang” nieder, der „Kalte
Krieg” bricht aus. Was wird nun aus Deutschland, fragen sich
viele Menschen im Westen wie im Osten des in Zonen aufgeteilten
Landes. Die Spaltung wirft ihre ersten Schatten. Bis der
Parlamentarische Rat in der beschaulichen Universitätsstadt
Bonn am 1. September 1948 zu seiner konstituierenden Sitzung in der
wenige Hundert Meter vom Museum Koenig entfernten
Pädagogischen Akademie zusammentritt, ist es noch ein weiter
Weg. Viele Hürden müssen genommen werden; zugleich
verschärfen weitere wichtige Ereignisse die Gegensätze,
die später zur Teilung Deutschlands führen:
- Um Deutschland wirtschaftlich wieder auf eigene Beine zu
stellen, legen die USA und Großbritannien im Januar 1947 ihre
Besatzungszonen zur Bizone zusammen. Kurze Zeit später wird
unter der Kontrolle dieser beiden Besatzungsmächte bereits der
Frankfurter Wirtschaftsrat mit ersten gesetzgeberischen Befugnissen
und einem Exekutivausschuss mit Direktoren gebildet, die
regierungsähnliche Aufgaben wahrnehmen — erste Vorformen
eines größeren Staatsgebildes. Zu den Direktoren
gehört Ludwig Erhard, die spätere Verkörperung des
„Wirtschaftswunders”.
- Mitte 1948 verkünden und initiieren die Amerikaner den
nach ihrem damaligen Außenminister benannten Marshallplan,
der Europa wieder aufhelfen soll, besonders dem Westen
Deutschlands. Der Osten muss sich dagegen auf Geheiß von
Stalin, der die Vorherrschaft der Sowjetunion in Osteuropa
gefährdet sieht, von dem milliardenschweren Hilfsprogramm
selbst ausschließen.
- Nahezu zeitgleich findet die Währungsreform statt. In den
drei westlichen Besatzungszonen gilt ab dem 20. Juni 1948 statt der
nahezu wertlosen Reichsmark nun die D-Mark. Jeder Bürger
erhält 40 D-Mark „Kopfgeld”. Schon am Tag nach der
Währungsreform sind die Schaufenster der Läden prall
gefüllt. Drei Tage später folgt die Ostzone mit einer
eigenen Währungsreform — allerdings ohne große
Wirkung auf das Warenangebot.
- Unmittelbar nach den Währungsreformen beginnt die Blockade
Berlins durch die Sowjets. Nur mit Hilfe einer Luftbrücke und
von täglich Hunderten „Rosinenbombern” können
die Westalliierten die Versorgung Westberlins aufrechterhalten.
Knapp ein Jahr — bis zum 12. Mai 1949 — dauert die
Blockade, dann lenkt die Sowjetunion ein.
- Im April 1949 erweitert sich die Bizone durch den Beitritt der
französischen Zone zur Trizone. Zunächst nur aus rein
wirtschaftlichen Interessen gegründet, werden Bizone und
Trizone und ihre Institutionen jedoch am Beginn des Kalten Krieges
zu Vorläufergebilden der Bundesrepublik Deutschland.
In dieser komplizierten Gemengelage ergreifen die drei
Westalliierten die Initiative. Am 1. Juli 1948 übergeben sie
im ehemaligen IG-Farben-Haus in Frankfurt, dem Hauptquartier der
amerikanischen Streitkräfte, den elf Ministerpräsidenten
der westdeutschen Besatzungszonen drei auf Schreibmaschine
geschriebene Dokumente. Kernpunkt ist dabei der Auftrag, bis zum 1.
September 1948 eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Sie
soll „eine demokratische Verfassungausarbeiten, die
für die beteiligten Länder eine Regierungsform des
föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die
gegenwärtig zerrissene Einheit schließlich
wiederherzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder
schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die
Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten
enthält.”
© Ullstein Bild/Henry Ries
Mit diesem Auftrag (den sogenannten Frankfurter Dokumenten) beginnt
die Uhr der Staatswerdung der Bundesrepublik endgültig zu
ticken. Nur noch zwei Monate sind es, bis der Parlamentarische Rat
dafür die entscheidenden Weichen zu stellen hat. Und diese
zwei Monate haben es in sich. Hektische Aktivitäten entfalten
sich. Schon eine Woche nach der Übergabe der Frankfurter
Dokumente treffen sich die Ministerpräsidenten der
westdeutschen Länder auf dem Rittersturz, einem Aussichtspunkt
bei Koblenz, um über die Konsequenzen der alliierten
Initiative zu befinden. Schon dabei kristallisieren sich drei
Kernpunkte heraus, die auch die späteren Beratungen —
etwa im Jagdschloss Niederwald — dominieren werden:
- Die Frankfurter Dokumente sollen grundsätzlich angenommen
werden.
- Die Schaffung eines westdeutschen Teilstaates erscheint wegen
der damit verbundenen Vertiefung der Teilung Deutschlands
problematisch.
- Um die deutsche Einheit nicht zu gefährden, soll es keine
Verfassunggebende Versammlung, sondern nur einen Parlamentarischen
Rat, keine Verfassung, sondern höchstens ein
Organisationsstatut oder Grundgesetz sowie kein Volksreferendum
geben.
Was sind die Leitbilder?
Streitpunkte zwischen den Ministerpräsidenten der
westdeutschen Länder und den drei Westmächten sind auch
die Festlegung von Ländergrenzen und das Besatzungsstatut mit
weitgehenden Rechten, das die Alliierten für sich
beanspruchen.
Viele weitere Fragen türmen sich im Vorfeld des
Parlamentarischen Rates auf. Soll das geplante Grundgesetz ein
lockeres Provisorium, eine ausgearbeitete Verfassung oder ein
Mittelweg von beidem sein? An welchen Vorbildern, an welchen Werten
orientiert man sich? Wie stark und eigenständig darf oder muss
die angestrebte Demokratie werden?
Auf die eigene deutsche Geschichte zurückzugreifen, hilft
nicht viel. Denn eine gewichtige demokratische Tradition hat
Deutschland nicht zu bieten. So wie der berühmten
Giebelinschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE am stark zerstörten
Reichstagsgebäude einige Buchstaben fehlen, fehlt vielen
Menschen eine klare Orientierung. Kein Wunder: Das kaiserliche
Deutschland unter Wilhelm II. war ein monarchischer
Obrigkeitsstaat; die kurzen 14 Jahre der anschließenden
Weimarer Republik (1919 bis 1933) mit ihren permanent wechselnden
Regierungen, ihren institutionellen Schwächen und ihrer
mangelnden positiven Verankerungen im Bewusstsein der Bürger
eigneten sich auch nicht so recht als Vorbild; schließlich
die Katastrophe des nationalsozialistischen Regimes unter Adolf
Hitler. Auf welche Leitbilder sollte da zurückgegriffen
werden?
Vor dieser Frage steht auch der Sachverständigenausschuss, der
zur Vorbereitung des Parlamentarischen Rates vom 10. bis 23. August
1948 im Kloster von Herrenchiemsee zusammentritt und später
den Titel Verfassungskonvent erhält. In der
Inselabgeschiedenheit erarbeiten elf Politiker und
Sachverständige — unter ihnen Adolf Süsterhenn und
Carlo Schmid — wichtige Prinzipien für das neue
Grundgesetz, etwa die, dass die neue Republik eine „wehrhafte
Demokratie” sein müsse, die Regierung von einer
„arbeitsfähigen Mehrheit” im Parlament
abhängig und das Staatsoberhaupt neutral sein
müsse.
Umstritten ist zunächst, wie verbindlich die Herrenchiemseer
Beschlüsse sein sollen. Vor allem die SPD sieht in ihnen
höchstens „Vorarbeiten”, an die sich der
Parlamentarische Rat nicht zu halten habe. Doch die Geschichte
bestimmt anders: Viele Gedanken der Klosterrunde werden später
im Grundgesetz aufgenommen.
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Text: Sönke Petersen
Bildnachweis: Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer,
Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn
Erschienen am 13. August 2008