Auch die Vertreter Berlins bekennen
sich zum Grundgesetz: der Berliner Oberbürgermeister Ernst
Reuter bei der Unterzeichnung. Rechts Otto Suhr,
nichtstimmberechtigtes Berliner Mitglied des Parlamentarischen
Rates
© Erna Wagner-Hehmke/HDG
Das Grundgesetz von 1949 bis
heute
Als das Grundgesetz in Kraft tritt,
beginnt für Deutschland ein neuer Abschnitt seiner Geschichte.
Die Hoffnungen sind groß — doch die ersten Schritte der
jungen Demokratie im Westen sind noch unsicher. Heute ist aus dem
Provisorium eine Erfolgsgeschichte geworden: als Basis einer
stabilen Demokratie mit einer lebendigen Verfassungswirklichkeit,
in der sich immer wieder erweist, wie modern, robust und
entwicklungsfähig das Grundgesetz ist.
Der letzte Akt im Gründungskanon steht noch aus: Die
Ratifizierung und Verkündung des Grundgesetzes. Da die
Verfassungsmütter und -väter eine Volksabstimmung
abgelehnt haben, wird der Grundgesetzentwurf des Parlamentarischen
Rates allen elf Landtagen zur Ratifizierung vorgelegt. Innerhalb
von drei Tagen — vom 18. bis 21. Mai 1949 — stimmen
alle Landtage dem Entwurf zu — mit Ausnahme des Bayerischen
Landtags. In leidenschaftlichen Diskussionen begründen
CSU-Abgeordnete ihre Abneigung gegen das Grundgesetz, dem sie
mangelnden Föderalismus vorwerfen. Doch scheitern lassen
wollen die Bayern das Grundgesetz auch nicht. Sie lassen sich ein
Hintertürchen offen: Werde das Grundgesetz in zwei Dritteln
der deutschen Länder angenommen, soll „die
Rechtsverbindlichkeit dieses Grundgesetzes auch für Bayern
anerkannt” werden. Genau so geschieht es.
Richtfest zum Bau des Plenarsaals des
Bundestages in Bonn 1949. Im Hintergrund die Arbeiter im
Stahlgerüst
© Erna Wagner-Hehmke/HDG
Am 23. Mai 1949 findet daraufhin die Schlusssitzung des
Parlamentarischen Rates mit der feierlichen Verkündung des
Grundgesetzes in Bonn statt. Der Festakt — er wird von allen
deutschen Rundfunkstationen direkt übertragen — wird von
Orgelspiel und Chorälen umrahmt. Präsident Konrad
Adenauer betont in seiner Ansprache, dass trotz der auferlegten
Beschränkungen die Entscheidung zum Grundgesetz „auf
freiem Willen” und „auf der freien Entscheidung des
deutschen Volkes” beruhe. Dann sagt er: „Heute, am 23.
Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen
Geschichte unseres Volkes.
Heute wird nach der Unterzeichnung und Verkündung des
Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte
eintreten. Wer die Jahre seit 1933 bewusst erlebt hat, (...) der
denkt bewegten Herzens daran, dass heute, mit dem Ablauf dieses
Tages, das neue Deutschland entsteht.”
Nach jeweiligem Aufruf unterzeichnen zunächst die Abgeordneten
des Parlamentarischen Rates, danach die Ministerpräsidenten
der elf Länder die Originalausfertigung des Grundgesetzes. Nur
die Mitglieder der KPD-Fraktion weigern sich, „die Spaltung
Deutschlands” zu unterschreiben.
Erfüllte Hoffnungen
Originalseite des Grundgesetzes mit
Präambel
© Abbildungen: Picture-Alliance/dpa
Heute liegt die Originalfassung des Grundgesetzes im Panzerschrank
des Direktors beim Deutschen Bundestag. Sie wird jedes Mal
hervorgeholt, wenn der Bundespräsident und der Bundeskanzler
ihren Amtseid vor den Mitgliedern des Bundestages und des
Bundesrats ablegen.
Fast 60 Jahre sind seitdem vergangen. Aus den unsicheren
Anfängen ist eine ungeahnte Erfolgsgeschichte, aus dem
dauerhaften Provisorium eine freiheitliche, offene und stabile
Demokratie geworden, die ihren Platz in der Welt gefunden hat, von
ihr respektiert und bewundert wird. Vor allem aber hat sich die
Hoffnung des Parlamentarischen Rates, mit der Staatswerdung
Westdeutschlands die Einheit in Freiheit Deutschlands nicht zu
gefährden, erfüllt — wenn auch erst nach 40 Jahren.
Die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands war nicht nur
Ziel, sondern ist auch Höhepunkt unserer jüngsten
Verfassungsgeschichte. Denn mit dem im Einigungsvertrag vom 31.
August 1990 geregelten und zum 3. Oktober 1990 vollzogenen Beitritt
der DDR ist das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung
geworden.
Originalseite des Grundgesetzes mit
Adenauers Unterschrift
© Abbildungen: Picture-Alliance/dpa
Zunächst nur unzulänglich legitimiert, hat das
Grundgesetz seine eigentliche demokratische Bestätigung erst
durch die öffentliche Anerkennung in jahrzehntelanger
Verfassungspraxis erfahren. Heute gilt das Grundgesetz als
freiheitlichste und fortschrittlichste Verfassung, die Deutschland
je besessen hat. Für einige Staaten ist das Grundgesetz zum
Vorbild für eigene Verfassungsvorhaben geworden (siehe
Kasten). In Deutschland selbst hat sich das Grundgesetz zwar an
veränderte gesellschaftliche Wertvorstellungen undan
Entwicklungen, die durch Deutschlands Stellung in Europa und der
Welt bedingt sind, angepasst, im Wesensgehalt aber ist es
unverändert geblieben und hat so für Stabilität und
Akzeptanz gesorgt. Verglichen mit anderen Ländern in Europa
ist Deutschland mit seinen kontinuierlichen Regierungen —
acht Kanzler in 60 Jahren — und seiner stabilen
Parteienlandschaft, die dennoch für die Gründung neuer
Parteien wie Die Grünen offen geblieben ist, ein Hort der
Beständigkeit.
Wichtige Stationen der Anpassung des Grundgesetzes an eine
veränderte Verfassungswirklichkeit sind:
- Pariser Verträge und die Wehrverfassung: Mit Inkrafttreten
der PariserVerträge endet im Mai 1955 endgültig die
Besatzungsherrschaft, die Bundesrepublik erhält die
Souveränität (es bleiben alliierte Vorbehaltsrechte bis
zur deutschen Einheit). Ein Jahr später verabschiedet der
Bundestag nach heftigen Auseinandersetzungen die Wehrverfassung und
damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für den
Aufbau einer Wehrpflichtarmee.
- Notstandsgesetze: Zur Erreichung der vollen
Souveränität gehört auch der von den Alliierten
geforderte Erlass einer Notstandsverfassung. Sie regelt 1968 im
Kern, wer im Verteidigungsfall das Sagen hat. Viele Kritiker
fürchten starke Sonderrechte der Exekutive. Am Ende aber wahrt
der Bundestag mit dem „Gemeinsamen Ausschuss” als
Notparlament seine Rechte.
- Reform nach der Einheit: Entgegen den Vorstellungen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, die eine grundlegende Reform des
Grundgesetzes samt anschließender Volksabstimmung anstreben,
setzen Union und FDP eine paritätisch besetzte
„Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und
Bundesrat” durch, die sich auf wenige Änderungen
beschränkt. Sie betreffen einmal die Präambel und die
Neuverteilung der Sitze im Bundesrat, zum anderen moderate
Veränderungen wie die „tatsächliche”
Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern,
ein Diskriminierungsverbot behinderter Bürger und die Aufnahme
des Umweltschutzes als Staatsziel. Kritiker bemängeln, dass
eine historische Chance vertan wird.
- Europa: Die fortschreitende Integration Europas verlangt auch
Korrekturen und Ergänzungen am Grundgesetz. So werden 1992 ein
europapolitischer Grundsatzartikel, ein Kommunalwahlrecht für
EU-Bürger und eine Ermächtigung zur
Aufgabenübertragung an die Europäische Zentralbank
eingefügt.
- Privatisierungen: Im Zeichen der Privatisierung von bisher
ausschließlichen Staatsunternehmen werden Anfang der
90er-Jahre Regelungen für den Luftverkehr, die Post und die
Bahn beschlossen.
- Asylrecht: Um den Zustrom von jährlich rund 400.000
Asylbewerbern einzudämmen, ringt sich der Bundestag 1993 nach
heftigem Streit zu Einschränkungen des Asylrechts durch.
- Innere Sicherheit: Um der anwachsenden organisierten
Kriminalität besser zu begegnen, wird 1998 die
Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt. Weil sie die
elektronische Überwachung von Wohnungen (Stichwort
„Großer Lauschangriff”) ablehnt, tritt die
Justizministerin zurück.
- Frauen in der Bundeswehr: Im Zuge der Gleichberechtigung
dürfen auch Frauen seit 2000 freiwillig in der Bundeswehr
Dienst mit der Waffe leisten.
- Föderalismusreform: Um das Zusammenspiel von Bund und
Ländern effizienter zu gestalten und das politische System
entscheidungs- und handlungsfähiger zu machen, werden im Jahre
2006 insgesamt 25 Grundgesetzartikel reformiert. Somit handelt es
sich bei der Föderalismusreform um die größte
Verfassungsänderung seit 1949.
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Text: Sönke Petersen
Bildnachweis: Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer,
Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn
Erschienen am 13. August 2008
Weitere Informationen:
Vorbild für andere
Länder
Wäre das Grundgesetz eine Handelsware, könnte Deutschland
gute Geschäfte machen. Denn trotz seiner bald 60 Jahre gilt
das Grundgesetz bei vielen Staaten als fortschrittlich und
demokratisch vorbildlich. Nicht wenige Länder haben bei ihrer
staatlichen Neuorientierung Anleihen beim Grundgesetz genommen. So
gibt es etwa in Ungarn, aber auch in Polen, Slowenien und seit
einem Jahrzehnt in Belgien analog zu Deutschland ein konstruktives
Misstrauensvotum. Spanien hat nach dem Ende der Franco- Herrschaft
massiv vom Grundgesetz „abgeschrieben”. Nach dem
Wegfall des Ost-West-Konfliktes orientieren sich auch viele mittel-
und osteuropäische Staaten am deutschen Grundgesetz.
Besonderer Exportschlager dabei: die Grundrechte und die
Verfassungsgerichtsbarkeit.
Die Attraktivität des Grundgesetzes ist dabei nicht auf Europa
beschränkt. Auch die Südafrikaner haben sich beim
Grundgesetz bedient, vor allem bei den
Föderalismusbestimmungen und der zweiten Kammer. Und
Neuseeland hat mit der personalisierten Verhältniswahl das
deutsche Wahlrecht übernommen.
Föderalismusreform
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1949:
www.blickpunkt-bundestag.de (Rubrik
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