Jürgen Böttcher lebt eine Art Doppelleben: Als Regisseur reist er rund um den Globus, seine Dokumentarfilme werden weltweit in Retrospektiven gefeiert. Als Maler nennt er sich Strawalde und findet Produktivität in der Ruhe und Einsamkeit seines Ateliers. Im Kunst-Raum des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses kann man derzeit die Vielschichtigkeit dieses Künstlers nachempfinden, außerdem „Anna Chron“ kennen lernen und feststellen, dass Malen und Filmemachen in Wahrheit nah beieinander liegen.
Manchmal bedarf es zweier Leben, um all die Dinge zu tun, zu denen man sich berufen fühlt. Filmemacher und Maler zugleich sein – das ist zweifellos ein Fall von seltener Doppelbegabung und womöglich von konträrer Doppelexistenz. Ein Regisseur reist in der Welt umher und lässt sich für seine Werke feiern. Ein Maler zieht sich zurück in die Stille und Einsamkeit des Ateliers.
Der Regisseur heißt Jürgen Böttcher und gilt als Leitfigur einer ganzen Generation filmender Maler Ostdeutschlands. Für seine Experimentalfilme und Dokumentationen bekam Böttcher Auszeichnungen rund um den Globus. Im Museum of Modern Art in New York ist er mit einer Filmauswahl vertreten. Hierzulande verlieh man ihm in diesem Jahr die Berlinale Kamera.
Experimenteller Film in der DDR
Als Maler nennt er sich Strawalde, war einer der bedeutendsten oppositionellen Künstler der DDR. In Dresden versammelte er einen Kreis von Künstlern um sich, die ebenso vom DDR-Regime verfolgt und an der Ausstellung ihrer Werke gehindert wurden. Heute lebt er in Berlin und findet Inspiration in der Zurückgezogenheit seines Ateliers, das zugleich seine Wohnung ist. Dort sammeln sich Werke aus fünf Jahrzehnten des Schaffens.
Frei von Konventionen und erfinderisch ist der Maler wie der Filmemacher. Das zeigt etwa sein berühmtes filmisches Experiment, das nun mit anderen seiner Werke im Kunst-Raum des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses des Deutschen Bundestages ausgestellt ist: Darin übermalt er vor laufender Kamera Kunstpostkarten seiner Lieblingsmaler aus der Renaissance. In diesem Übermalungswerk lässt er den Zuschauer leibhaftig an dem freien Spiel mit Form und Farbe teilhaben. Gleichzeitig baut Böttcher hier eine Brücke zwischen seiner Malerei und dem Film und lässt beide Arten der Kunst einander inspirieren und ergänzen.
Dieses Übermalungswerk ist der einzige Fall experimentellen Filmschaffens, der in den offiziellen Strukturen der DEFA-Filmproduktion entstanden ist. Ansonsten geriet Böttcher oft in Konflikt mit den Zensoren der DDR. Viele seiner Dokumentarfilme wurden verboten, nicht zuletzt aufgrund seiner nüchternen Beobachtungsweise. In schwarz-weißen Bildern erzählt er in seinen Dokumentationen vom harten Leben der einfachen Menschen und reflektiert politische Geschichte. Seine Collage „Die Mauer“ wurde 1990 auf der Berlinale ausgezeichnet.
Geheimnisvolle Frauengestalt
Die Ausstellung im Kunst-Raum auf zwei Etagen ist von der Spreeufer-Promenade aus zugänglich und wurde konzipiert unter der Leitung von Andreas Kaernbach, dem Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages. Hier erfährt der Besucher auch von einem geheimnisvollen Schwerpunkt im Leben des Künstlers: eine Frau namens „Anna Chron“ – ihr ist ein ganzer Raum der Ausstellung gewidmet. Die Porträts sind inspiriert von Vorbildern der Renaissance. Sie strahlen Sehnsucht und Schwermut aus: große, wässrige Augen blicken ins Leere; blasse, schmale Gesichter werden von dunklen, schweren Farbflächen umrahmt.
Strawaldes Bilder sind sinnlich, das Ergebnis eines produktiven Sehens, das nicht von Konzessionen an Medien und moderne Strömungen verklärt wird. Mit Strawalde und Böttcher verschmelzen zwei eigenwillige Kunstwege auf der Leinwand – zwei Talente, die zwei ganze Leben füllen könnten.
Text: Lydia Harder
Foto: Deutscher Bundestag
Erschienen am 24. April 2006
STRAWALDE – Gemälde, Filme,
Videos
Ausstellung im Kunst-Raum des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses
Geöffnet bis zum 14. Mai von Dienstag bis Sonntag jeweils von
11 bis 17 Uhr.