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Gültig ab: 18.06.2008 10:19
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Schützen wir uns um den Preis der Freiheit?

Gerhart Baum und Wolfgang Bosbach neben Dani Karavans Kunstwerk „Grundgesetz 49” im Parlamentsviertel.
Gerhart Baum und Wolfgang Bosbach neben Dani Karavans Kunstwerk „Grundgesetz 49” im Parlamentsviertel. In Artikel 13 des Grundgesetzes ist das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung formuliert
© Thomas Köhler/photothek.net

Streitgespräch: Gerhart Baum und Wolfgang Bosbach

Was darf der Staat? Wo sind ihm Grenzen gesetzt? BLICKPUNKT BUNDESTAG hat zwei prominente Politiker zum Streitgespräch gebeten. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Wolfgang Bosbach erklärt, warum er die neuen Sicherheitsgesetze für unumgänglich hält. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum sagt, weshalb er vor lauter Sicherheit die Freiheit gefährdet sieht.

Blickpunkt Bundestag: Herr Baum, sind Sie ein Streithansel?

Gerhart Baum: Nein, ich bin kein Streithansel, ich bin aber ein streitbarer Mensch und war als Politiker ein umstrittener Mensch.

Blickpunkt: Wir fragen das, weil Sie gegen das Luftsicherheitsgesetz, gegen den großen Lauschangriff, gegen die Onlinedurchsuchung und gegen die Vorratsdatenspeicherung beim Bundesverfassungsgericht geklagt haben. Was treibt Sie an?

Baum: Meine Sorge, dass eine langsame Erosion der Grundrechte stattfindet. Wobei die einzelne Maßnahme unproblematisch sein kann, aber die Summe der Maßnahmen mir wirklich große Sorgen macht. Ich habe die Besorgnis, dass wir in der notwendigen Reaktion auf neue Bedrohungen, die ich durchaus anerkenne, zu weit gehen. Und ich freue mich, dass das Bundesverfassungsgericht dieses sehr ähnlich sieht.

Blickpunkt: Herr Bosbach, Sie haben allen bisherigen Sicherheitsgesetzen zugestimmt. Haben Sie keine Ader für den freiheitlichen Bürgerrechtsstaat?

Wolfgang Bosbach: Ich hätte nicht zugestimmt, wenn ich, wie Herr Baum, der Überzeugung wäre, dass die Grundfeste des Rechtsstaates beschädigt werden. Ich bin sicher, dass das Vertrauen der Bürger in diesen Staat vielmehr dann erschüttert wird, wenn er keine geeigneten und rechtsstaatlichen Mittel gegen die neuen Bedrohungen aufbietet. Dann bekämen extreme Kräfte Zulauf, denen wir unsere Republik niemals anvertrauen sollten.

Baum: Das ist eine Sorge, die ich durchaus teile. Aber ich sehe die Gefahr, dass die Menschen in ihrem Vertrauen zum Grundgesetz erschüttert werden. Die Erosion des Vertrauens kommt von der Überreaktion auf die Bedrohung des Terrorismus.

Bosbach: Deshalb ist es auch eine Bringschuld der Politik zu erläutern, dass und warum die Sicherheitsgesetze notwendig sind, warum sie verhältnismäßig sind und warum sie rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Ich habe sogar Verständnis für Herrn Baum, wenn er sagt, ob das alles in der Summe nicht ein bisschen viel ist. Auf der anderen Seite: Wenn vier Maßnahmen notwendig sind, können wir nicht auf die vierte verzichten mit der Begründung, wir hätten ja schon drei beschlossen.

Baum: Das Problem ist doch, dass die Unverzichtbarkeit der Maßnahme nicht dargelegt wird. Es wird nicht dargelegt, ob man nicht auch mit herkömmlichen Mitteln das gleiche Ziel erreichen kann. Also bleibt unbeantwortet, ob der Freiheitsverlust in erträglicher Relation zum Sicherheitsgewinn steht. Den Menschen muss klar werden, was mit der Maßnahme erreicht wird — positiv wie negativ.

Blickpunkt: Bislang ist Deutschland — abgesehen von der RAF-Zeit — von schweren Terroranschlägen verschont geblieben. Können wir deshalb eher unbefangen über das Für und Wider neuer Sicherheitsgesetze reden?

Bosbach: Wir sind keineswegs vom islamistischen Terror verschont geblieben. In der RAF-Zeit haben 34 Deutsche ihr Leben verloren, dem internationalen Terror der letzten Jahre sind 50 Deutsche zum Opfer gefallen. Es war eine Mischung aus Ermittlungserfolg und Glück, dass in Deutschland nicht noch Gravierenderes passiert ist. Aber machen wir uns nichts vor: Sollte es in Deutschland einmal einen verheerenden Anschlag geben, wird sich die öffentliche Meinung sofort drehen. Dann werden die Menschen fragen, warum Politik und Polizei nicht in der Lage waren, solche Anschläge zu verhindern.

Baum: Als früherer Innenminister kenne ich das Spannungsverhältnis, für Sicherheit zu sorgen, die Freiheit aber dabei nicht zu sehr einzuschränken. Ich meine, wir müssen dieses Spannungsverhältnis aushalten. Damals, in der RAF-Zeit, waren 70 Prozent der Deutschen dafür, die in Stammheim einsitzenden Terroristen zu erschießen. Wir sind dem natürlich nicht gefolgt. Wir müssen das Risiko mindern, aber wir können es nicht auf null bringen. Der Preis wäre zu hoch.

Wolfgang Bosbach.
Wolfgang Bosbach
© Picture-Alliance/Jan-Peter Kasper
Bosbach: Aber im Umkehrschluss kann das nicht bedeuten, dass der Staat nicht offenkundige Schutzlücken schließt. Wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen, weil wir unseren Bürgern keinen absoluten Schutz vor Anschlägen garantieren können. Dort, wo der Staat schützen kann, hat er auch die Pflicht zu schützen. Es gibt zudem einen Unterschied: Die RAF-Terroristen hatten die Spitzen von Staat und Wirtschaft im Fadenkreuz, die Terroristen von heute haben „weiche Ziele”, nämlich die gesamte Bevölkerung. 82 Millionen Menschen kann ich aber nicht so schützen wie früher einzelne Politiker.

Baum: Das ist richtig. Aber ebenso richtig ist: Nicht alles, was nützt, darf gemacht werden. Wir haben kein Grundrecht auf innere Sicherheit. Alles ist freiheitsbezogen. Die Zielsetzung richtet sich auf die Freiheit. Wenn wir die Freiheit zu ihrer Sicherheit selbst abschaffen, ist das absurd.

Blickpunkt: Lassen Sie uns zum geplanten neuen BKA-Gesetz kommen. Umstrittenster Teil ist dabei der Zugriff auf den privaten Computer per Onlinedurchsuchung. Warum ist dies nötig?

Bosbach: Der internationale Terror ist sowohl hochkommunikativ als auch -konspirativ, unter anderem nutzt er hoch wirksame Verschlüsselungsprogramme. Hinzu kommt, wer heute eine Anleitung zum Bombenbau aus dem Netz herunterlädt, der heftet das nicht im Leitzordner ab, sondern speichert das auf der Festplatte. Die Festplatte ersetzt also das, was früher der Aktenordner war. Deshalb kann man auf den Zugriff auf die Festplatte nicht verzichten. Aber diese Maßnahme wird sich auf wenige Fälle beschränken.

Baum: Daran glaube ich nicht. Wie beim Telefonabhören wird es eine unaufhaltsame Dynamik geben. Das Neue bei der Onlineüberwachung ist zudem, dass noch niemals so viele Informationen, auch äußerst intime, mit einem einzigen Zugriff erfasst werden konnten. Hier ist in einem hohen Maße die Privatheit der Persönlichkeit betroffen, denn es ist nahezu ausgeschlossen, die grundgesetzlich geschützte Privatheit vom Ermittlungsziel zu trennen.

Bosbach: Das ist richtig. Die sogenannten Sauerland-Bomber haben gleichzeitig in der Küche gebetet und dort versucht, Sprengstoff herzustellen. Wer links betet und rechts eine Bombe herstellt, kann sich nicht auf den Schutz der Privatsphäre berufen. Wir haben uns in dem BKAGesetz redlich bemüht, den Kernbereich des Privaten zu respektieren. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so.

Blickpunkt: Immerhin hat das Verfassungsgericht aber so etwas wie ein „Grundrecht auf die Festplatte” geschaffen ...

Baum: Und das war wichtig und richtig. Und es hat festgestellt, dass eine allgemeine Bedrohungslage noch nicht für eine Maßnahme ausreicht, sondern sehr konkrete Tatsachen vorliegen müssen.

Blickpunkt: Karlsruhe hat zudem untersagt, dass der Trojaner durch Einbruch in die Wohnung gesetzt wird. Ist die Onlinerazzia überhaupt noch praktikabel?

Bosbach: Ja. Es wird immer noch Fälle geben, in denen die Onlinedurchsuchung ohne Betreten einer Wohnung, also online, erfolgversprechend ist.

Baum: Es bleibt schon merkwürdig, dass im Gesetz von Schutzvorkehrungen „nach dem Stand der Technik” die Rede ist. Der Gesetzgeber weiß offenbar selbst nicht, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden.

Blickpunkt: Terroristen legen für einen Anschlag meist keine Dateien an. Sie konspirieren über Internetcafés mit wechselnden Briefkästen. Lohnt sich da die Onlinedurchsuchung überhaupt? Mit wie vielen Eingriffen rechnen sie?

Bosbach: Viele Täter, die sich für intelligent halten, werden gefasst, weil sie sich selber überschätzen. Seit 140 Jahren nehmen wir weltweit Fingerabdrücke; das müsste sich mittlerweile in Ganovenkreisen herumgesprochen haben. Dennoch werden jeden Tag Straftäter durch ihre Fingerabdrücke überführt. Zur Anzahl: Alles was heute gegen die Onlinedurchsuchung ins Feld geführt wird, ist Mitte der 90er-Jahre gegen die akustische Wohnraumüberwachung polemisiert worden. In den ersten drei Jahren hatten wir im Schnitt 27 Überwachungen pro Jahr, im vorletzten sechs und im letzten Jahr nur zwei Überwachungen. Etwa in dieser Größenordnung wird es auch Onlinedurchsuchungen geben. Bei 47 Millionen Haushalten sind wir da noch ein bisschen vom Überwachungsstaat entfernt.

Gerhart Baum.
Gerhart Baum
© Thomas Köhler/photothek.net
Baum: Es bleibt aber dabei, dass es immer weniger beobachtungsfreie Zonen gibt. Die Grenze des Präventivstaates wird immer weiter ausgelegt. Der Bürger braucht aber die Gewissheit, dass es Bereiche gibt, in denen der Staat nichts zu suchen hat. Der Staat darf gegen Menschen, die sich anständig verhalten, nichts unternehmen. Das ist heute leider nicht mehr der Fall.

Blickpunkt: Herr Bosbach, Herr Baum, Sie haben sich vor Artikel 13 des Grundgesetzes, der die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert, fotografieren lassen. Ist dieser Artikel hohl geworden?

Bosbach: Nein, das sehe ich nicht. Wir haben heute Gefährdungen in einer Dimension, die noch vor 15 Jahren unvorstellbar waren. Deshalb muss der Staat den Bedrohungsszenarien Rechnung tragen. Es geht nicht an, dass der Ganove mit dem Porsche vorneweg fährt und der Polizist im Trabi hinterher. Das gilt nicht nur für Technik und Personal, sondern auch für das Recht.

Blickpunkt: Onlinedurchsuchung, Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Luftsicherheitsgesetz — die Liste scheint unerschöpflich. Schützen wir uns um den Preis unserer Freiheit?

Baum: Ich sage: Ja. Denn es hört ja nicht auf. Nun will Schäuble auch noch eine gemeinsame Abhörzentrale. Die Dynamik der Informationstechnik wird sehr schnell zu einer weiteren Aufweichung des Trennungsgebots von Polizei und Nachrichtendiensten führen. Andere wollen zu einem Feindstrafrecht kommen und den Terroristen den Krieg erklären, bei dem dann die Bundeswehr polizeiliche Aufgaben übernähme. Das alles macht mir größte Sorge.

Bosbach: Auch ich bin kein Anhänger des Feindstrafrechts. Ein Guantanamo darf es bei uns nicht geben.

Blickpunkt: Wo endet der Schutz- und Sicherheitsanspruch der Bürger?

Baum: Dort, wo fundamentale Prinzipien der Verfassung verletzt werden. Es gibt Situationen, wo der Staat nicht wissen darf, was ihm möglicherweise helfen würde.

Bosbach: Ein gutes Beispiel dafür ist die sogenannte Rettungsfolter. Folter ist absolut verboten, davon kann es keine Ausnahme geben. Ein Waterboarding wie bei den Amerikanern muss bei uns unvorstellbar bleiben.

Blickpunkt: Seit 2002 hat das Bundesverfassungsgericht zwölf Gesetze zur inneren Sicherheit ganz oder teilweise verworfen. Funktioniert die parlamentarische Kontrolle nicht mehr?

Bosbach: Doch, sie funktioniert. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass es bei wichtigen Rechtsfragen unterschiedliche Einschätzungen gibt. Auch im Verfassungsrecht gilt: Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand. Gelegentlich interpretiert das Bundesverfassungsgericht die eigene Rechtssprechung ziemlich freihändig und damit überraschend.

Baum: Ich finde das alles für unser Verfassungssystem etwas peinlich. Der erste Interpret der Verfassung muss der Bundestag selbst sein. 

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Das Gespräch führte Sönke Petersen.
Erschienen am 18. Juni 2008

Zur Person:

Wolfgang Bosbach, Jahrgang 1952, ist seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit dem Jahr 2000 ist der gelernte Rechtsanwalt stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Seine Schwerpunktthemen sind unter anderem die Rechts- und Innenpolitik.
E-Mail: wolfgang.bosbach@bundestag.de
Website: www.wobo.de

Gerhart Baum, Jahrgang 1932, war von 1972 bis 1994 Mitglied der FDPFraktion des Bundestages. Von 1972 bis 1978 war er Parl. Staatssekretär im Bundesinnenministerium, von 1978 bis 1982 Bundesminister des Innern. Seit 1994 ist er wieder als Rechtsanwalt tätig.
E-Mail: info@gerhart-baum.de
Website: www.gerhart-baum.de


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