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Gleichberechtigt unter Parlamentariern

Bild: Marie-Elisabeth Lüders, 1878 bis 1966.
Marie-Elisabeth Lüders, 1878 bis 1966.

Marie-Elisabeth Lüders starb vor 40 Jahren

Oft war sie in ihrem Leben die Erste: Als eine der ersten Studentinnen besuchte sie in Berlin die Universität und promovierte als erste Frau in Deutschland zum Dr. rer. pol. Im Reichstag der Weimarer Republik gehörte sie zu den ersten weiblichen Abgeordneten, nachdem das Wahlrecht für Frauen eingeführt worden war. 1953 war sie Alterspräsidentin des Bundestages – als erste und bisher einzige Frau. Die liberale Politikerin Marie-Elisabeth-Lüders hat ihr Leben gestaltet, ohne sich von den Rollenerwartungen ihrer Zeit irritieren zu lassen. Erinnerungen an ein politisches Leben.

Die 1878 geborene Marie-Elisabeth Lüders wuchs in einer großbürgerlichen und liberalen Welt im Berliner Westen auf. Ihre Kindheit war behütet. Der Vater war höherer Ministerialbeamter im Preußischen Kultusministerium und durch seine Stellung dem preußischen Königshaus persönlich bekannt. Wiewohl im Hause Lüders eine liberale politische Stimmung herrschte, galt im Allgemeinen auch in den Seitenstraßen des Kurfürstendamms eine feste Rollenverteilung der Geschlechter.

Amüsiert blickte die Politikerin in ihren Erinnerungen auf ihre Kindheit zurück. Schon damals wollten die Jungs hoch hinaus: Die Familie Lüders nahm den Trauerzug für den verstorbenen Kaiser Wilhelm I. von den Fenstern des väterlichen Büros aus wahr. Das Ministerium lag an der Straße Unter den Linden. Bei schneidender Kälte waren im März 1888 die Berliner Jungen auf die Bäume geklettert, um besser sehen zu können. Da viele von ihnen an den Linden festgefroren waren, mussten sie mit Hilfe der Feuerwehr von dort befreit werden. Das junge Mädchen sah am Bürofenster das Malheur. Sie stand gewissermaßen darüber.

Füßescharren der Kommilitonen

Nach dem regulären Schulbesuch kam unweigerlich die Frage auf, welchen Berufsweg sie einschlagen sollte. Keineswegs gefiel sich die junge Marie-Elisabeth Lüders darin, Lehrerin zu werden, egal ob sie verheiratet werden sollte oder nicht. Die geistige Bewegung und Beweglichkeit in den damals gängigen Berufen für Frauen war ihr zuwenig. Schlittschuhlaufen, Klavierunterricht und den Besuch von Koch- und Kunststunden füllten sie nicht aus. Sie wollte mehr. Schon mit 16 Jahren – in dem Jahr wurde 1894 das Reichstagsgebäude feierlich durch Kaiser Wilhelm II. eingeweiht – las sie in den zugänglichen stenographischen Berichten des Reichstags und des Preußischen Landtags. Sie absolvierte außerhalb von Berlin mehrere Frauenschulen und hatte Begegnungen mit dem Bund Deutscher Frauenvereine.

1909 konnte sich Marie-Elisabeth Lüders an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin immatrikulieren, nachdem sich ein Jahr zuvor die Universitäten in Preußen für Frauen geöffnet hatten. Sie musste aber noch das Abitur nachholen, was ihr 1910 gelang.. Ein Gymnasialdirektor empfahl Marie-Elisabeth Lüders, dass Strümpfe stopfen für eine Frau ergiebiger sei als ein Studium. Sie setzte sich dennoch durch und wurde als eine der ersten Frauen 1912 in Staatswissenschaften promoviert. In der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität überhörte sie geflissentlich das ablehnende Füßescharren ihrer männlichen Kommilitonen, wenn sie den Hörsaal betrat.

Frauen hatten grundsätzlich nicht die gleichen Rechte in Politik und Gesellschaft wie Männer, was aber schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs führende Vertreterinnen aller politischen Lager kritisiert hatten. Das hat auch Marie-Elisabeth Lüders durch das Verhalten ihrer männlichen Kommilitonen an der Universität zu spüren bekommen, was sie aber nicht entmutigte.

Nach dem Studium wurde Marie-Elisabeth Lüders Wohnungspflegerin in Charlottenburg. Die „Wohnungspflege“ war ein neues Arbeitsgebiet, das die Anfänge der späteren Sozialfürsorge markiert. Dabei ging es um die Beseitigung hygienischer Mängel in Haushalten durch staatliche pädagogisch-praktische Unterstützung. Jetzt lernte sie auch die andere Seite der Gesellschaft kennen und musste erkennen, wie armselig viele Frauen und Familien regelrecht dahinvegetierten. Zeichner wie Heinrich Zille haben das Berliner Arbeitermilieu festgehalten, in dem Lüders sozialfürsorgerisch tätig war.

Wahlkampf in Armut

Während des Krieges wurde Marie-Elisabeth Lüders in Verwaltungseinheiten an der Westfront eingesetzt. Im von deutschen Truppen besetzten Brüssel erlebte sie das Elend der Soldaten, aber auch das der Frauen in den hinteren Etappen, die als Helferinnen und in der Munitionsherstellung arbeiteten. Über deren teilweise schreckliche Lebensbedingungen hatte Marie-Elisabeth Lüders an das Kriegsministerium zu berichten. Immer wieder schlugen ihr männliche Ignoranz und Vorbehalte entgegen. Das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 brachte einschneidende politische und gesellschaftliche Veränderungen mit sich: Die Hohenzollern mussten nach fünfhundertjähriger Regentschaft abdanken und die Republik wurde ausgerufen.

Nun erhielten mit der Gründung der Weimarer Republik die Frauen das aktive und das passive Wahlrecht.. Auch Marie-Elisabeth Lüders wählte zum ersten Mal und versuchte ein Mandat für die Weimarer Nationalversammlung zu erlangen, was ihr nicht gelang. Aber sie rückte noch 1919 für den verstorbenen Friedrich Naumann nach. Erfahrungen in der parlamentarischen Arbeit hatte sie schon seit Mai 1917 im stolzen Wallotbau am damaligen Königsplatz sammeln können. Während des Krieges hatte sie als Sachverständige über die soziale Lage hinter der Front in verschiedenen Ausschüssen referiert.

Den Wahlkampf in dieser Zeit betrachtete sie in der Rückschau als eine der mühevollsten Unternehmungen in ihrer politischen Laufbahn. Unterernährt, schlecht gekleidet und in kalten Zügen reisend durchquerte sie den rheinischen Raum zwischen Aachen und Düsseldorf. Dort schließlich landete sie entkräftet im Krankenhaus, aus dem sie das erste Mal ihr aktives Wahlrecht in Anspruch nahm.

1920 zogen 36 Frauen in den Reichstag ein. Gut die Hälfte davon waren Sozialdemokratinnen, darunter Louise Schröder und Marie Juchhacz, die als erste Frau in der deutschen Parlamentsgeschichte überhaupt eine Rede vor dem Plenum hielt. Das war am 6. Februar 1919 noch in der Weimarer Nationalversammlung. Lüders erste Parlamentsrede beinhaltete die Frage der wirtschaftlichen Versorgung jener Frauen, die an der Front eingesetzt waren. Der erste Ausschuss, in dem Marie-Elisabeth Lüders Mitglied wurde, war der Ausschuss für Bevölkerungspolitik. In den folgenden Jahren arbeitete sie in sieben verschiedenen Ausschüssen mit. Insgesamt setzte sich Marie-Elisabeth Lüders mit anderen weiblichen Abgeordneten – fraktionsübergreifend – für weitere Gleichberechtigungsschritte für die Frauen ein, so etwa für die Gleichbehandlung von Frauen im Beamtenrecht.

Marie-Elisabeth Lüders beschritt konsequent ihren Weg. So sah sie etwa Versuchen eines so genannten Herrn von Alten zum Ende der Weimarer Republik, einen „Verein zur Bekämpfung der Frauenbewegung“ zu gründen, gelassen entgegen. Sie attestierte dem rechten Politiker Kenntnislosigkeit und peinliche Verständnislosigkeit. Die Frauen, so forderte der Verein damals, „sollten wieder zu sich selbst geführt werden“.

Verfolgung im Nationalsozialismus

Wiewohl Marie-Elisabeth Lüders dem Reichstag nur bis September 1930 angehört hatte, geriet sie dennoch nach dem Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in den Fokus der neuen Machthaber. 1934 erhielt sie Rede- und Schreibverbot. Für vier Monate saß sie 1937 in Gestapohaft in Moabit und am Alexanderplatz, ohne dass ihr selbst klar war, warum. Sie vermutete, dass ihre langjährigen Kontakte zum Auswärtigen Amt und zum Reichswirtschaftsministerium, aber vor allem ihre Teilnahme an vielen internationalen Tagungen sie verdächtig gemacht hatten. Die Bombennächte in Berlin erlebte sie wie alle Berliner in Todesangst. Mehrfach tauchte sie unter. Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte sie evakuiert in Mittelfranken.

Schon bald zog es die gebürtige Berlinerin in ihre Heimatstadt zurück. Marie-Elisabeth Lüders wurde Vorstandsmitglied des Berliner Frauenbundes und Vorstandsmitglied der LDP/FDP Berlin, dann auch Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung und Magistratsmitglied. Als Stadträtin für Sozialwesen (1948 bis 1950) verwaltete sie vor allem den herrschenden Mangel, konnte aber an ihre vielfältigen Erfahrungen auf diesem Gebiet anknüpfen. Am 30 November 1950 fand die letzte Sitzung der Stadtverordnetenversammlung statt, am 3. Dezember 1950 wurde in West-Berlin der erste Senat gewählt: die politische Teilung Berlins war Realität geworden. Dem Senat gehörte Marie-Elisabeth Lüders nicht mehr an.

Alterspräsidentin des Bundestages

Aber der politische Weg von Marie-Elisabeth Lüders war damit noch nicht zu Ende. 1953 und 1957 zog sie für die Berliner FDP in den Deutschen Bundestag ein. Den 2. Deutschen Bundestag eröffnete sie im Oktober 1953 als Alterpräsidentin. Im Rechtsausschuss setzte sie sich unter anderem für das „Gesetz betreffs die Gleichberechtigung der Frauen“ ein, das erst 1957 verabschiedet wurde. Ebenfalls 1957 trat das „3. Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit“ in Kraft, nach dem eine Frau, die einen Ausländer heiratet, nicht automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit verliert. Damit wurde das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 korrigiert, gegen das Marie-Elisabeth Lüders schon in der Weimarer Zeit gekämpft hatte („Lex Lüders“).

1958 erhielt Lüders aus den Händen von Willy Brandt im Rathaus Schöneberg zu ihrem 80. Geburtstag die Ehrenbürgerwürde ihrer Heimatstadt Berlin. Sie ist bis heute in der Ehrenbürgergalerie im Abgeordnetenhaus von Berlin vertreten. 1961 kandidierte sie nicht mehr für den Deutschen Bundestag. Bei ihrer letzten Begegnung mit Konrad Adenauer fragte der Bundeskanzler die scheidende Politikerin, ob es ihr in Bonn denn nicht gefalle, dass sie nicht mehr antreten wolle. Nach mehrfachem Ausweichen und Nachfragen Adenauers schließlich gestand sie dem zwei Jahre älteren, damals 85jährigen Adenauer ein, „man müsse auch mal aufhören können“. Adenauer fühlte sich angesprochen von der streitbaren Berlinerin.

Marie-Elisabeth Lüders waren noch fünf Jahre Ruhestand beschieden. Sie starb vor vierzig Jahren in Berlin am 23. März 1966.

Text: Volker Wagner
Foto: Picture-Alliance
Erschienen am 20. März 2006


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