Die Bundestagswahlen 1987 scheinen bereits vor dem Urnengang am 25. Januar entschieden: Alle Umfragen prognostizieren der christlich-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) den sicheren Wahlsieg. Doch dann sorgen die Wählerinnen und Wähler zumindest für eine kleine Überraschung.
Fast schon genüsslich schildert „Der Spiegel“, der aus seiner Abneigung gegen Kohl kein Hehl machte, in seiner Ausgabe vom 26. Januar 1987 den Wahlabend in der Bonner Regierungszentrale: „Der Amtsinhaber konnte erst gar nicht fassen, was die Wähler ihm da angetan haben“, so das Nachrichtenmagazin aus Hamburg. „Mit seiner Pfeife saß er am frühen Abend behaglich am Schreibtisch im Kanzleramt. Seine Mitarbeiter bestätigten ihm noch einmal, die Demoskopen sähen die Union nahezu einhellig bei 46 Prozent. Als dann die ersten Hochrechnungen kamen, machte er ‚doch einen sehr verdutzten, verwunderten Eindruck’, beobachtete einer der Teilnehmer.“
Kein Wunder: Mit 44,3 Prozent der Wählerstimmen fährt die Union an diesem Abend ihr bis dato schlechtestes Wahlergebnis seit Gründung der Bundesrepublik ein, im Vergleich zu den Bundestagswahlen von 1983 verliert sie 4,5 Prozent der Stimmen und damit 21 Sitze im Parlament. Dabei kann Kohl eine durchaus positive Bilanz seiner Regierung vorweisen: In den letzten Jahren ist es ihr gelungen, die horrenden Staatsschulden zu reduzieren und inflationäre Tendenzen zu überwinden. Das Problem der Arbeitslosigkeit, die in den 1980er Jahren dramatisch ansteigt, konnte sie zwar nicht lösen. Doch immerhin stehen die Zeichen nach Jahren der wirtschaftlichen Stagnation erstmals wieder auf Wachstum.
Doch offensichtlich halten die Wählerinnen und Wähler diese wirtschaftspolitischen Erfolge weniger der Union als ihrem Koalitionspartner FDP zugute, die als Regierungspartei fast schon traditionell das Wirtschaftsressort besetzt. 9,1 Prozent der Stimmen erreicht die FDP – das ist ein Zuwachs von 2,1 Prozent im Vergleich zu 1983. Und das, obwohl FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff im Juni 1984 wegen seiner Verwicklung in die Flick-Parteispendenaffäre zurücktreten muss und im Februar 1987, nur einen Monat nach der Bundestagswahl, wegen Steuerhinterziehung zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wird.
Die Union hingegen, die ebenfalls in die Affäre verstrickt ist – 1984 muss Bundestagspräsident Rainer Barzel (CDU) deswegen von seinem Amt zurücktreten – bekommt die Wählerquittung für die unpopulären Einschnitte ins soziale Netz, mit denen die Kohl-Regierung den Staatshaushalt zu konsolidieren versucht. Davon betroffen sind vor allem Rentner, Arbeitslose und Familien.
Zudem sind vielen noch eine Reihe von Auftritten und Äußerungen des Regierungschefs in frischer Erinnerung, die für einige innen- und außenpolitische Verstimmungen gesorgt haben. Etwa Kohls gemeinsame Kranzniederlegung mit US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg im Mai 1985, der in der Öffentlichkeit auf Kritik stößt, weil in Bitburg auch Angehörige der ehemaligen Waffen-SS beerdigt sind. Oder sein Interview mit dem US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ im Oktober 1986, in dem er den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels vergleicht.
Die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Johannes Rau an der Spitze bemüht sich zwar, diese Steilvorlagen von Regierungsseite in eigene Stimmengewinne zu verwandeln. „Deutschland braucht endlich wieder einen Kanzler, dem man vertrauen kann. Johannes Rau“, heißt es etwa auf ihren Wahlplakaten. Doch der Erfolg ist mäßig: Nur 37 Prozent der Wählerinnen und Wähler geben den Sozialdemokraten ihre Stimme, das ist für die SPD das schlechteste Wahlergebnis seit 1961. Dabei ist Rau, damals Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, wo er bei den Landtagswahlen 1980 und 1985 sehr gute Ergebnisse für seine Partei einfahren kann, durchaus beliebt und wird von vielen als sympathisch empfunden.
Doch hat die SPD zunehmend mit der Konkurrenz durch die Grünen zu kämpfen, die 1983 erstmals in den Bundestag eingezogen und 1987 die eigentlichen Wahlsieger sind: Auf 8,3 Prozent der Stimmen kommt die Ökopartei, das sind 2,7 Prozent mehr als bei der Wahl zuvor. Sie sind nun mit 44 Abgeordneten im Parlament vertreten. Die Stimmung bei den Grünen ist entsprechend prächtig. „Zufrieden grunzend“ werde man wieder in den Bundestag einziehen, so Joschka Fischer, damals hessischer Umweltminister, gut gelaunt am Wahlabend. Für die Sozialdemokraten, den Wunschpartner der Grünen für ein Regierungsbündnis, gibt es hingegen wenig Mitleid. Rau habe sich, spottet etwa der frisch in den Bundestag gewählte Grüne Thomas Ebermann, „auf Katastrophenniveau stabilisiert“.
Ironischerweise profitiert die junge politische Kraft bei ihrem Wahlsieg vor allem von der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl, die im April 1986 die Weltöffentlichkeit erschüttert und ihr die Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernenergie vor Augen führt. Eine eindeutige Mehrheit der Bundesbürgerinnen und -bürger spricht sich danach gegen die Nutzung der Atomenergie und vor allem gegen den Bau neuer Kernkraftwerke aus – wie es die Grünen bereits vor Tschernobyl gefordert haben.
Trotz der nicht unerheblichen Verschiebungen in der Sitzverteilung im Bundestag nach der Wahl 1987 ist die Fortsetzung der von Kohl so genannten „Koalition der Mitte“ aber nicht in Gefahr. Der Pfälzer, der am 11. März 1987 im Bundestag als Bundeskanzler wiedergewählt wird, kann gemeinsam mit den Liberalen weiterregieren. Kohls Position in der Regierung wie in der CDU ist zwar geschwächt. Doch Hoffnungen seiner politischen Gegner, seine Tage als Regierungschef seien gezählt, sollten sich als deutlich verfrüht erweisen.