Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) wahrt die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Organisation ihres Gesundheitswesens und für die medizinische Versorgung (vgl. Artikel 152 Abs. 5 EGV). Die Tätigkeit der Gemeinschaft ergänzt jedoch die Politik der Mitgliedstaaten und ist auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der menschlichen Gesundheit gerichtet. Sie umfasst die Bekämpfung der weit verbreiteten schweren Krankheiten und ergänzt die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Verringerung drogenkonsumbedingter Gesundheitsschäden. In die Zuständigkeit des Rates der EU fallen zudem Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie für Blut und Blutderivate. Die Mitgliedstaaten können hier jedoch auch strengere Schutzmaßnahmen beibehalten oder einführen („teilharmonisierter Bereich“).
Bei der Umsetzung europäischen Rechts wird im Ausschuss deshalb oft kontrovers über die Frage diskutiert, ob die Umsetzung mit den vorgelegten Gesetzentwürfen 1:1 erfolgen oder „draufgesattelt“ werden soll. Diese Frage dürfte z. B. bei der anstehenden Umsetzung der in Brüssel beschlossenen Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen in deutsches Recht eine Rolle spielen: Mit dem Vorschlag der Richtlinie hatte sich der Ausschuss im Frühjahr 2003 befasst und dabei auch den Berichterstatter des Europäischen Parlaments beteiligt. Im Ergebnis brachte der Ausschuss seine Unterstützung für das Bestreben der Bundesregierung zum Ausdruck, im Rahmen des zu beratenden EU-Richtlinienvorschlags ein hohes Gesundheitsschutzniveau für die EU-Bürger im Hinblick auf die Qualität und Sicherheit von Geweben und Zellen, die bei Menschen angewendet werden, zu erreichen. Darüber hinaus hatte der Ausschuss die Intentionen begrüßt, die das EP mit seinen Änderungsanträgen zu dem Richtlinienvorschlag verfolgt hatte. Schließlich hatte sich der Ausschuss vorbehalten, bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht auf strengere Schutzmaßnahmen hinzuwirken.
Die in Artikel 152 EGV festgelegte Kompetenzverteilung schließt nicht aus, dass die vier Grundfreiheiten des EG-Vertrages – freier Warenverkehr (Artikel 28), freier Personenverkehr (Artikel 39), freier Dienstleistungsverkehr (Artikel 49) und freier Kapitalverkehr (Artikel 56) – durchaus einen Einfluss auf die nationalen Gesundheitssysteme haben können. So gilt für den Arzneimittelsektor die Freizügigkeit des Warenverkehrs: Der Arzneimittelmarkt ist nahezu vollständig harmonisiert, zumindest in Bezug auf die Arzneimittelzulassung. Die Regelungsdichte soll dabei gleichzeitig dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Vollendung des Gemeinsamen Marktes dienen.
Durch mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EUGH) wurde zudem deutlich, dass die Grundfreiheiten gegenüber der nationalen Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Gesundheitssysteme nach der Rechtsauslegung des EUGH grundsätzlich höherwertig sind. So urteilte der EUGH 1998, dass medizinische Erzeugnisse und Dienstleistungen dem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr unterliegen. 2001 folgten Urteile, nach denen auch ausländische Krankenhausbehandlungen dem freien Dienstleistungsverkehr unterliegen. Der deutsche Gesetzgeber hat daraus Konsequenzen gezogen und diese Rechtsauslegung mit dem Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes in das nationale deutsche System übernommen. Dadurch können sich nun alle Versicherten Leistungen auf der Basis von Kostenerstattung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im Ausland beschaffen.
Weitere aktuelle Beispiele dafür, wie Regelungen des Binnenmarktes auf den Gesundheitsbereich ausstrahlen können, sind die „Arbeitszeit-Richtlinie“ mit Auswirkungen für den Bereitschaftsdienst in Krankenhäusern und die „Dienstleistungs-Richtlinie“. Beide Themen hat der Ausschuss unter Nutzung seiner Selbstbefassungskompetenz wiederholt aufgegriffen, um auf der Grundlage von der Bundesregierung erbetener aktueller Sachstandsberichte im kritischen Dialog den europäischen Rechtsetzungsprozess (sowie die Umsetzung) parlamentarisch zu begleiten. Fragen im Zusammenhang mit der Behandlung der nach heftigen Protesten in den Mitgliedsländern aufgrund der besonderen Qualitätsanforderungen schließlich aus dem Anwendungsbereich der „Dienstleistungs-Richtlinie“ ausgenommenen Gesundheitsdienstleistungen waren darüber hinaus auch Anlass für zwei Besuche des Ausschusses in Brüssel im April 2005 und Mai 2006. In der Folge steht derzeit die Ankündigung der Kommission, ein sektorales Legislativvorhaben auf den Weg zu bringen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, denn darin soll es um mehr als nur den nun ausgenommenen Bereich gehen. Geplant ist vielmehr ein „Gemeinschaftsrahmen für sichere, hochwertige und effiziente Gesundheitsdienste durch Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und Herstellung von Klarheit und Sicherheit in der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf Gesundheitsdienste und Gesundheitsversorgung.“
Die Beispiele zeigen, dass durch die zunehmende Mobilität von Patienten und Ärzten sowie durch das weitere Zusammenwachsen der EU eine verschärfte Diskussion entstanden ist, die bestehenden Sozialsysteme besser kompatibel zu machen. Zur Verbreitung bewährter Praktiken und der Herstellung einer größeren Konvergenz in Bezug auf die Ziele der Mitgliedstaaten findet daher die Offene Methode der Koordinierung (OMK) auch auf den Gesundheitsbereich Anwendung. Die Kommission hat für diesen Bereich allgemeine Ziele formuliert: Zugänglichkeit der Versorgung auf den Grundlagen von Universalität, Angemessenheit und Solidarität, Angebot einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung, die sich am wissenschaftlichen Fortschritt und an die mit dem Alter aufkommenden Bedürfnisse anpasst, sowie Sicherung der langfristigen Finanzierbarkeit der Versorgung. Im weiteren Prozess geben die Mitgliedstaaten nun so genannte Länderberichte über die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen auf nationaler Ebene sowie die eingeleiteten Reformschritte ab. Anschließend wird die Kommission diese bei der Erstellung der gemeinsamen Leitlinien im „gestrafften“ Sozialschutzprozess („Streamlining“) berücksichtigen. Diese sollen ihrerseits in eine Reihe von Entwicklungs- und Reformstrategien für die Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege einbezogen werden. Das Ergebnis wird in einem gemeinsamen Bericht über den Sozialschutz und die soziale Eingliederung vorgestellt. Ziel der Union ist das „Europäische Sozial- und Gesellschaftsmodell“ mit gleichen Mindeststandards und Grundsicherungen für alle Bürger der Union. Obwohl die Ziele grundsätzlich begrüßt werden, gibt es auch Bedenken: Wegen historisch gewachsener Unterschiede könnten methodische Probleme in der Vergleichbarkeit der Daten bestehen und zu Fehlschlüssen führen. Zudem stammen die bislang entwickelten Indikatoren aus dem Bereich der Sozialen Wiedereingliederung und der Alterssicherung und sind in der Regel finanzierungslastig.
Vor diesem Hintergrund bringt sich der Ausschuss für Gesundheit z. B. durch Nachfragen bei und Berichtsbitten an die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Kenntnisnahme einschlägiger, ihm überwiesener Mitteilungen der Kommission in diesen Prozess ein. Die Ausschussmitglieder lassen sich jedoch auch unabhängig von dem Ausschuss zur Beratung überwiesenen Vorlagen regelmäßig von der Bundesregierung im Vorfeld von und im Nachgang zu den Tagungen des Rates der EU „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ über aktuelle Entwicklungen berichten und über den Sachstand gemeinsamer europäischer Projekte unterrichten, wie z. B. die Einführung der Europäischen Krankenversicherungskarte.
(zu den europapolitischen Aktivitäten des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung in der 15. Wahlperiode vgl. Tätigkeitsbericht, Seiten 5 bis 10 und Seite 30)