Es gilt das gesprochene
Wort
Heute vor 61 Jahren, am 27. Januar 1945, wurden die
Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz von Soldaten der Roten Armee befreit.
Wir sind heute - wie in jedem Jahr - im Deutschen Bundestag
zusammengekommen, um an diesem Jahrestag aller Opfer des
Nationalsozialismus zu gedenken.
In Absprache mit den Ländern der Bundesrepublik Deutschland
hat Bundespräsident Roman Herzog vor zehn Jahren diesen Tag
als Gedenktag gewählt, weil Auschwitz Stätte und Symbol
für den von Deutschen begangenen millionenfachen Mord vor
allem an Juden ist, aber auch für die Vernichtung anderer
Volksgruppen sowie Personen, die wegen ihrer ablehnenden Haltung
gegenüber dem Nationalsozialismus zu Verfolgten wurden. Mit
der jüdischen Publizistin Grete Weil - sie war selbst
Verfolgte und dem Holocaust nur knapp entkommen -, können wir
sagen: "Auschwitz ist Chiffre, kein Ort".
Heute von 250 Jahren ist Wolfgang Amadeus Mozart geboren worden,
mit dessen Andante aus einem späten Streichquartett das
Vogler-Quartett diese Gedenkstunde nach meiner Begrüßung
fortsetzen wird. Die beiden Daten haben nichts, aber auch gar
nichts miteinander gemeinsam. Aber sie verdeutlichen die alle
Vorstellungskraft sprengende Spannbreite dessen, wozu Menschen in
der Lage sind.
Bis zum Beginn des nationalsozialistischen Terrors hätte sich
niemand vorstellen können, dass es "entartete Kunst" geben
soll. Mit diesem absurden und zugleich existenzbedrohenden Urteil
wurden auch Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann und Boris Blacher
konfrontiert, von denen wir heute Werke aus den Jahren 1933 und
1944 hören.
Wie sehr nicht nur wir Deutsche dieses Gedenktages bedürfen,
zeigten uns die letzten Wochen. Mit Bestürzung haben wir zur
Kenntnis nehmen müssen, dass heute sogar
Staatsoberhäupter den Holocaust mit Nachdruck als
"Märchen" bezeichnen und sich zu antisemitistischen
Äußerungen versteigen.
Wenn der Deutsche Bundestag angesichts der für uns
unfassbaren, wiederholten Erklärungen des iranischen
Präsidenten in seiner Debatte am 16. Dezember 2005
fraktionsübergreifend das Existenzrecht Israels als eine
deutsche Verpflichtung bekräftigt und sich entschieden gegen
all jene wendet, die den Holocaust leugnen,
- dann zeigen wir nicht mit erhobenem Zeigefinger auf
andere.
- Dann wollen wir auch nicht ablenken von schuldhaftem Tun
während der Zeit des Nationalsozialismus, als Deutsche sich
zum Ziel setzten, die Juden in ganz Europa auszurotten.
Der Bundestag hat in seiner Debatte vielmehr einmal mehr deutlich
gemacht, dass unsere Geschichte nicht nur in Gedenkveranstaltungen
wie der heutigen in Erinnerung gerufen wird, sondern unser
ständiger Begleiter ist und sein wird und wir uns bei unserem
politischen Handeln daran orientieren. Wir müssen, wollen und
werden weiterhin bereit sein, Lehren aus unserer Geschichte zu
ziehen. Damit wollen wir uns auch entschieden der vielzitierten
Vermutung widersetzen, dass wir bislang aus der Geschichte nur
gelernt haben, dass wir nicht aus ihr gelernt hätten.
Der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers hat schon im Wintersemester
1945/46 den Zusammenhang zwischen dem Aufbau einer deutschen
Demokratie nach Hitler und der öffentlichen Reflexion
deutscher Schuld gesehen. Er hat damit schon vor 60 Jahren eine
wesentliche Begründung für unsere heutige Gedenkpraxis
geliefert. Heute müssen wir parlamentarische Demokratie in
Deutschland nicht mehr aufbauen, aber wir wollen sie erhalten und
fortentwickeln und vor allem schützen. Deswegen wird auch
zukünftig der Deutsche Bundestag offenen Antisemitismus und
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz anprangern,
verurteilen und bekämpfen. Dass sich Auschwitz nicht
wiederholt, ist in unserer aller Verantwortung.
Jaspers Schülerin Hannah Arendt hat bei ihren Studien
über den millionenfachen systematischen Mord an Menschen durch
Deutsche herausgestellt, dass wir, die jüngeren Generationen,
die den Zweiten Weltkrieg entweder als Kinder noch erlebten oder
aber erst später geboren wurden, stellvertretend Verantwortung
auf uns nehmen für Dinge und für die Konsequenzen von
Dingen, die wir selbst nicht getan haben und (Zitat) "an denen wir
vollkommen unschuldig sind" (Zitatende). Das - so Arendt - ist
(Zitat) "der Preis, den wir für die Tatsache zahlen, dass wir
unser Leben nicht mit uns allein, sondern unter unseren
Gefährten leben". (Zitatende) Deswegen wird diese Schuld auch
weiterhin unser Denken, unsere Sprache und unser Handeln
bestimmen.
Der diesjährige Gedenktag wird uns einmal mehr in Erinnerung
bleiben, weil der 27. Januar 2006 von den Vereinten Nationen
erstmals als "Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des
Holocaust" begangen wird.
Die Vereinten Nationen haben bei ihren Überlegungen, den
Gedenktag zu schaffen, die Gedenkpraxis des Deutschen Bundestages
vor Augen gehabt. Es ist gut, dass es nicht umgekehrt gewesen
ist.
Es ist ein bescheidenes Verdienst des Deutschen Bundestages, auch
seinerseits einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben, an die
Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Zum einen mit dieser
Gedenkstunde, zum anderen aber auch mit einem eigenen Programm zur
Begegnung mit Jugendlichen. Dafür bin ich meinen
Vorgängern im Amt, Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse und
allen, die daran mitgewirkt haben, dankbar.
Ich freue mich auf das gleich stattfindende Zusammentreffen mit den
80 Jugendlichen, die heute auf Einladung des Bundestages im
Reichstagsgebäude sind und der Gedenkstunde beiwohnen. Denn in
der Begegnung mit ihnen wird jene Forderung eingelöst, die
Erinnerung an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Unsere
Jugendlichen aus Deutschland sind für die ganze Woche mit
gleichaltrigen jungen Menschen aus den uns längst befreundeten
Nachbarstaaten Polen und Frankreich zusammengekommen. Ich bin sehr
interessiert zu erfahren, welche Eindrücke sie während
ihres Aufenthalts im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und
bei ihren Begegnungen mit Zeitzeugen gesammelt haben, wie sie in
diesen Tagen und auch hier in dieser Gedenkstunde Geschichte erlebt
haben, ihren Verlauf, ihre Voraussetzungen und ihre Folgen.
Schon bei den Gedenkstunden der letzten Jahre wurde uns immer
wieder deutlich, dass es aus natürlichen Gründen von Jahr
zu Jahr schwieriger sein wird, Zeitzeugen und Überlebende des
Holocaust einzuladen. Umso dankbarer sind wir, heute Prof. Dr.
Ernst Cramer hier zu haben.
Ihnen, lieber Herr Prof. Cramer, gilt unser aller besonders
herzlicher Gruß. Sie, Herr Prof. Cramer, wurden am 28. Januar
1913 in Augsburg geboren (morgen werden Sie also 93 Jahre alt!).
Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 wurden Sie inhaftiert und in
das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nur mit viel
Glück und Mühe konnten Sie dem Tode entrinnen - Ihre
Angehörigen hingegen nicht. Wer nie in einer vergleichbaren
Situation war, kann kaum erahnen, was es für einen Menschen
heißt, geliebte Menschen durch Verfolgung verloren, aber
selbst überlebt zu haben.
Solches Leiden kann durch nichts wieder gutgemacht werden. Es darf
nicht verdrängt und kann nicht bewältigt werden.
Später ist Prof. Cramer in die USA emigriert und kehrte nach
Kriegsende im Mai 1945 als amerikanischer Staatsbürger und
Soldat in seine Heimat zurück. Seit 1958 ist Ernst Cramer als
Journalist im Springer-Verlag tätig. Dort war er zuletzt 1983
bis 1999 als Mitglied des Aufsichtsrates und seit 1981 als
Vorsitzender des Vorstands der Axel Springer Stiftung
tätig.
Besonderes Engagement entwickelte Prof. Cramer in der
deutsch-israelischen Verständigung. Große Verdienste
erwarb er sich im Prozess der Aussöhnung zwischen beiden
Staaten und um die Suche nach der deutsch-jüdischen
Zukunftsperspektive, wofür er mit der Leo-Baeck-Medaille und
dem Heinz-Galinski-Preis ausgezeichnet wurde. Der
Axel-Springer-Verlag stiftete aus Dankbarkeit für dieses
Engagement das "Ernst Cramer Fellowship". Dieses Stipendium
ermöglicht deutschen Journalisten in Israel und israelischen
Journalisten in Deutschland einen Arbeitsaufenthalt.
Wir sind hier zu dieser Gedenkstunde zusammengekommen, um
Erinnerung öffentlich zu machen und ihr "einen Raum zu geben,
in dem private Erinnerung in öffentliches Gedächtnis
übergehen kann" (Prof. Dr. Antonia Grunenberg, Leiterin des
"Hannah Arendt-Zentrums und Archivs" an der Carl von
Ossietzky-Universität Oldenburg). Wir danken Ihnen, Herr Prof.
Cramer, für Ihre Bereitschaft, zu uns zu sprechen und Ihre
private Erinnerung zu einem Teil des öffentlichen
Gedächtnisses werden zu lassen.