Gibt es eine Leitkultur?
Meine Damen und Herren,
es gibt Begriffe, die zur unmissverständlichen
Kennzeichnung des Gemeinten oder Gewollten nur bedingt oder gar
nicht geeignet sind, ohne die aber die Debatte gar nicht zustande
käme, die zur notwendigen Klärung dessen, was gemeint
oder gewollt ist, dringend geführt werden muss.
Der Begriff Leitkultur gehört möglicherweise zu dieser
Kategorie von Begriffen. Er ist ganz sicher
erklärungsbedürftig, er ist offenkundig
missverständlich, er wird von nicht wenigen als schiere
Provokation empfunden. Auch deshalb ist die Debatte über
Leitkultur allemal leichter zu verweigern als zu führen. Und
gerade deswegen bin ich den Veranstaltern außerordentlich
dankbar, dass sie ein Thema auf die Tagesordnung eines solchen
Symposiums gehoben haben, das, jedenfalls nach meiner festen
Überzeugung, viel zu lange, viel zu nachlässig behandelt
worden ist.
Ich habe mir vorgenommen, zu diesem benahe unerschöpflichen
Thema zehn Bemerkungen zu machen, verbunden mit dem
zusätzlichen guten Vorsatz, allen Versuchungen zu widerstehen,
weitere ergänzende Bemerkungen zu dem zu machen, was ich in
der vorherigen Diskussion Interessantes gehört habe.
- Die Antwort auf unsere Frage "Gibt es eine Leitkultur?" setzt
eine gründliche, ergebnisoffene Debatte
voraus. Sie ist nicht offenkundig positiv oder negativ zu
beantworten. Dass es keine Leitkultur in einer liberalen
Gesellschaft geben könne, eine solche nicht gebraucht werde,
vielleicht nicht einmal toleriert werden dürfe, darüber
kann und muss man streiten. Aber dieser Streit mindestens muss
sein. Und deswegen ist für mich das Beste an dieser Debatte,
dass sie endlich stattfindet.
- Der Begriff Leitkultur schleppt mindestens
zwei ganz unterschiedliche Postulate mit sich. Das eine ist der
mögliche Anspruch einer Kultur auf Überlegenheit
gegenüber einer oder allen anderen. Und das andere ist der
Anspruch auf Geltung ihrer Werte und Orientierungen in einer
konkreten Gesellschaft. Das eine ist wohl nicht völlig
unabhängig von dem anderen, aber es ist ganz gewiss nicht
dasselbe.
- Was das Verhältnis von Kulturen
zueinander angeht, scheint mir ein Dominanzanspruch
unserer Kultur gegenüber anderen geradezu absurd, mindestens
unangemessen. Die großen Kulturen der Menschheitsgeschichte
lassen sich mühelos in eine zeitliche Reihenfolgen bringen.
Der Versuch, sie in eine Rangfolge zu bringen, scheint mir
hoffnungslos. Von diesem möglichen, aus meiner Sicht nicht
wirklich begründbaren Dominanzanspruch einer Kultur
gegenüber anderen trennen muss man die Frage ihres
Geltungsanspruchs in konkreten Gesellschaften. Für eine
konkrete Gesellschaft scheint mir der Geltungsanspruch einer
bestimmten Kultur, also der ihr zugrunde liegenden und von ihr
reproduzierten Überzeugungen und Orientierungen, völlig
unverzichtbar.
- Jede Gesellschaft, auch jede moderne Gesellschaft, braucht
einen Mindestbestand an gemeinsamen Werten,
Überzeugungen und Orientierungen, ohne die sie ihre
innere Konsistenz nicht bewahren und die politische Legitimation
für den Geltungsanspruch ihrer Normen, ihrer Gesetze, ihrer
Entscheidungen nicht aufrechterhalten kann. Hier geht es um ein
nicht nur theoretisches, sondern sehr praktisches Problem
säkularer Gesellschaften: aus der Errungenschaft der
Emanzipation von zugemuteten Verbindlichkeiten nicht vorschnell die
Beliebigkeit als einzig zulässiger Gestaltung der
Rahmenbedingung einer freiheitlichen Gesellschaft herleiten zu
wollen. Jürgen Habermas spricht von der "Gefahr einer
entgleitenden Modernisierung der Gesellschaft", die jene Art von
Solidarität auszehren könne, auf die der demokratische
Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen sei,
und fügt hinzu "So liegt es auch im eigenen Interesse des
Verfassungsstaates, mit allen den kulturellen Quellen schonend
umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die
Solidarität von Bürgern speist."
- Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit erträgt eine
Gesellschaft auch keine Vielfalt. Ob diese
Behauptung höheren philosophischen Ansprüchen
genügt, weiß ich nicht, aber unter lebenspraktischen
Gesichtspunkten hat er eine beachtliche Plausibilität für
sich. Gesellschaften sind in ihrer Verarbeitungsfähigkeit
nicht beliebig strapazierbar. Der Bedarf an Verbindlichkeiten,
"Ligaturen", wie das Ralf Dahrendorf vor Jahrzehnten schon mal
formuliert hat, der Bedarf an Verbindlichkeiten ist in liberalen
Gesellschaften eher größer als in autoritären. Der
Konsens über die Bedingungen für Dialoge und über
die Bedingungen für das Zustandekommen von Verbindlichkeiten,
insbesondere von verbindlichen Entscheidungen, ist die
Voraussetzung der Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft, die
wiederum Voraussetzung der Möglichkeit von Freiheit ist. Eine
Gesellschaft, die frei sein und Freiheit erlauben will, räumt
damit notwendigerweise die Unvermeidlichkeit von Konflikten ein,
die sie sich überhaupt nur erlauben kann, wenn es Konsens
darüber gibt, nach welchen Methoden diese Konflikte
auszutragen sind. Nur autoritäre Regime brauchen keinen
Konsens, sie ersetzen durch Kommandos, was an gemeinsamen
Überzeugungen und Orientierung in der Gesellschaft entweder
nicht vorhanden oder unerwünscht ist.
Der spätestens in diesem Zusammenhang regelmäßig
erfolgende Hinweis auf die Verfassung, in der doch
genau das aufgelistet, insofern unmissverständlich nachlesbar
sei, ist ebenso richtig wie irreführend. Verfassungen sind
kein Ersatz, sondern der Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft.
Verfassungen setzen in Rechtsansprüche um, was in einer
Gesellschaft an Überzeugungen gewachsen ist. Und mit Aussicht
auf Erfolg können sie nichts anderes formulieren und
regulieren als die in der Gesellschaft gewachsenen, entstandenen,
begründeten, tradierten Orientierungen und Überzeugungen.
Verfassungen geben Auskunft über die Erfahrungen, die ein Land
mit sich selbst gemacht hat, über die Einsichten, die gewonnen
wurden, die Überzeugungen, die über Generationen
gewachsen sind, die Orientierungen, die Geltung beanspruchen. Ohne
diese kulturellen Wurzeln erodiert jede Verfassung. Nicht Politik
hält eine Gesellschaft zusammen, sondern Kultur. Weniger die
juristisch verbindlichen Texte, sondern die rechtlich diffusen,
geschriebenen und ungeschriebenen Werte, Normen und
Orientierungen.
- Die wichtigsten, jedenfalls wirksamsten Faktoren und Agenturen
der Bildung und Vermittlung von Werten sind die
Religionen. Die Frage, ob sie für diese
Funktion der Bildung und Vermittlung von Werten, von Orientierungen
einer Gesellschaft, einen Exklusivanspruch erheben wollen, ob sie
dies dürfen und ob sie einen solchen Exklusivanspruch
gegebenenfalls auch durchsetzen können, unterscheidet sie im
historischen wie im aktuellen Vergleich nicht unwesentlich
voneinander. Ich glaube, wir haben Anlass, uns mit zwei weltweit zu
beobachtenden Übertreibungen auseinanderzusetzen, die ich
beide nicht für Errungenschaften, sondern für Verirrungen
halte. Das eine ist die Anmaßung, religiöse
Glaubensüberzeugungen mit fundamentalistischem Eifer zugleich
zu unmittelbar geltendem staatlichem Recht zu erklären. Und
das andere ist die Leichtfertigkeit, religiöse
Überzeugungen für irrelevant, belanglos, unbedeutend zu
erklären. Der zweite Irrtum ist nicht weniger gefährlich
als der erste. Er ist in unserem Kulturkreis zweifellos weiter
verbreitet; nicht wenige deutsche Intellektuelle haben sich im
richtigen Bemühen, dem ersten Irrtum entgegenzutreten, an der
Beförderung des zweiten kräftig beteiligt.
- Multikulturalität ist eine zutreffende
Beschreibung des Erscheinungsbildes, nicht aber ein Konzept zur
Selbstvergewisserung und Selbststabilisierung einer modernen
Gesellschaft. Kurt Biedenkopf hat vor vielen Jahren in einem
Interview in diesem Kontext gesagt, "Wenn eine Gesellschaft
multikulturell sein und zugleich ihre eigene Identität nicht
verlieren will, dann braucht sie einen gemeinsamen roten Faden,
eben eine Leitkultur." Soweit dieser Mindestbestand an gemeinsamen
Orientierungen und Überzeugungen kanonisierungsbedürftig
und überhaupt kanonisierbar ist, muss dieser Kanon meiner
Überzeugung nach als ein kontinuierlicher, reflexiver Diskurs
organisiert werden, unter allen Bürgerinnen und Bürgern
einer Gesellschaft, den Einheimischen wie den Zuwanderern. Ich
könnte mich jetzt auf zwei oder drei von Nida-Rümelin
vorgetragene Beispiele der jüngeren deutschen Geschichte, auch
der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte beziehen, die keinen
Zweifel zulassen, dass sich das, was wir in dieser Gesellschaft
für unverzichtbar oder verbindlich halten, im Laufe der Zeit
gelegentlich gehörig verändert. Übrigens, wenn mich
mein Eindruck nicht täuscht, folgt regelmäßig das
Recht den kulturellen Veränderungen und nicht die Kultur einer
Gesellschaft rechtlichen Vorgaben, was schon einen gewissen Schluss
über die Stabilität von Rechtskultur als verfügbaren
Handlungsrahmen erlaubt.
- Für mich ganz persönlich ist der harte Kern unserer
Kultur, der westlichen Zivilisation, die einzigartige Verbindung
von Glaube und Vernunft, die es, wenn ich das
richtig beurteile, in dieser Verbindung mit der wechselseitigen
Begründung und wechselseitigen Relativierung weder vorher
jemals gegeben hat noch anderswo in ähnlicher Weise gibt.
Nirgendwo ist im übrigen dieser wechselseitige Bezug mit den
sich daraus ergebenden wechselseitigen Begründungen und
Rechtfertigungslasten prägnanter formuliert worden als in dem
denkwürdigen Dialog zwischen Jürgen Habermas und Joseph
Ratzinger, der vor drei Jahren, im Januar 2004 in der Katholischen
Akademie in München stattgefunden hat und inzwischen unter
genau diesem Titel "Dialektik der Säkularisierung" publiziert
worden ist.
- Ein entscheidendes Merkmal - vielleicht ein Gütesiegel
unserer Kultur - ist der Zweifel. Seit der
Aufklärung steht hinter jedem Anspruch auf absolute Wahrheit
nicht mehr der Punkt, sondern das Fragezeichen. Und jede
Behauptung, einen Sachverhalt abschließend begriffen zu
haben, um ihn mit dieser Begründung ein für allemal
festlegen zu können, muss sich mit diesem Zweifel
auseinandersetzen. Auch deshalb und gerade deshalb ist für
mich diese Verbindung von Vernunft und Glaube, von Einsichten und
Orientierungen, von Erkenntnissen und Überzeugungen als
korrespondierende Prinzipien individuellen und im übrigen auch
staatlichen Handelns der eigentliche unaufgebbare, aber keineswegs
ein für allemal gesicherte Fortschritt unserer Zivilisation.
Unter welchen Begriff man das fassen will, ist mir beinahe
gleichgültig. Mich beruhigt außerordentlich, dass,
soweit ich diese Debatte in den letzten Monaten verfolge, seitdem
sie stattfindet, der Konsens in der Sache in erstaunlicher Weise
immer größer wird. Nur auf den Begriff können wir
uns nicht einigen. Damit, meine Damen und Herren, kann ich gut
leben, umgekehrt wäre es wesentlich schlimmer.