Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr de Maizière,
sehr geehrter Herr Generaldirektor, lieber Herr Professor
Schuster,
meine Damen und Herren,
an das Zustandekommen dieser Veranstaltung habe ich eine ausgeprägte Erinnerung. Sie wird von der Erinnerung des Vorsitzenden der Stiftung glücklicherweise geteilt, der mir vorhin am Eingang bestätigt hat, ich hätte seine Einladung, neben der Schirmherrschaft für diese Stiftung zur Verdeutlichung meines Interesses auch einen Vortrag zu übernehmen, spontan ohne schuldhaftes Verzögern - und leider auch ohne gründliches Nachdenken - sofort akzeptiert. Spätestens als ich das Museum betrat, wurde mir klar, dass das weniger mit Realitätssinn als mit Übermut zu tun haben musste, einschließlich der Leichtfertigkeit, das vereinbarte Thema "Bürgergesellschaft und Erinnerungskultur" eher für eine einfachere Übung gehalten zu haben.
Nun gibt es für den Empfang einer Stiftung, die sich dem
Denkmalschutz widmet, ganz sicher keinen besseren Standort als die
Berliner Museumsinsel. Manche hätten das auch ohne die
Erläuterung des Generaldirektors vermutet, jeder weiß
nun ultimativ, warum es so ist. Und für einen Vortrag zum
Thema "Bürgergesellschaft und Erinnerungskultur" gibt es ganz
sicher keine imposantere Kulisse als den Pergamonaltar, verbunden
freilich mit dem schon fast klassischen Risiko, dass das grandiose
Bühnenbild den armseligen Schauspieler erschlägt. Und
viele von Ihnen werden die Erfahrung teilen, dass es kaum bittere
Theater- oder Opernabende gibt als diejenigen, bei denen nach
Öffnen des Vorhangs bei Besichtigung eines
überwältigenden Bühnenbildes das Herz höher
schlägt und man zähe zwei, drei Stunden später
feststellt, dass damit der Abend seinen einzigen Höhepunkt
auch schon hinter sich hatte.
Ich soll und will zur Bürgergesellschaft und Erinnerungskultur
sprechen und tue das im Angesicht eines grandiosen Frieses, der den
Mythos vom Sieg der olympischen Götter über die
Kräfte des Chaos, die erdgeborenen Giganten, zeigt. Im
Vergleich zu dieser grandiosen Konfrontation von Göttern und
Giganten erscheint die Beschäftigung mit Staat und
Gesellschaft beinahe niedlich. Und wenn wir uns Staat und
Gesellschaft dann in Gestalt von Wählern und Gewählten
vorstellen, wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum noch jemand
auf den Gedanken kommen, die einen oder die anderen hielten sich
für Giganten oder gar für Götter.
Nach dem Untergang Pergamons wurde übrigens der Burgberg
geplündert und gebrandschatzt, nachfolgende Erdbeben haben dem
Originaldenkmal scheinbar ein für allemal den Rest gegeben.
"Wenn sich niemand mehr um etwas kümmert, beginnt unter
Menschen schnell das Recycling", hat der frühere Direktor der
Antikensammlung, Wolf-Dieter Heilmeyer, zum Schicksal mancher
bedeutender Kulturstätten gesagt. Nun sind Erinnerungskultur
und nationales Gedächtnis von dem hier im ganz handfesten
physischen Sinne angesprochenen Recycling sicher hinreichend
unterscheidbar, aber die Wiederverwendung von Erfahrungen aus
Ereignissen ist auch in politischen Zusammenhängen
möglich und üblich - mit manchen Folgen und
Nebenwirkungen.
Nach Johann Gustav Droysens "Historik" wollen Denkmäler "aus
der Zeit, aus den Vorgängen oder Geschäften, von denen
sie Überreste sind, etwas bezeugen oder für die
Erinnerung fixieren, und zwar in einer bestimmten Form der
Auffassung des Geschehenen und seines Zusammenhangs, und darin sind
sie den Quellen analog."
Hinter den letzten Halbsatz möchte ich gleich ein doppeltes
Fragezeichen setzen, denn wenn denn die Quellen im allgemeinen
schon mehr oder weniger interpretationsfähig, manchmal auch
interpretationsbedürftig sind, so sind die meisten aus
gegebenem Anlass errichteten Denkmäler regelmäßig
Interpretationen von Ereignissen, an die sie erinnern wollen oder
sollen. Eben deswegen haben wir immer mit einer Kultur der
Erinnerung zu tun, die sich unter verschiedenen Zeitumständen
in verschiedenen Epochen nicht nur, aber auch unserer Geschichte in
unterschiedlicher Weise beobachten lässt.
Das nationale Gedächtnis lässt sich weder amtlich
formulieren noch durch eine Behörde regeln. Gleichwohl sind
Erinnern und Gedenken nicht nur Privatsache, sondern immer auch
eine öffentliche Angelegenheit. Und weil sie notwendigerweise
das eine und das andere sind und das jeweils eine das jeweils
andere auch nicht ersetzen kann und darf, ist die
Beschäftigung mit diesem Zusammenhang ebenso dringlich wie
kompliziert. Um das kollektive Gedächtnis der jüngeren
Geschichte - und für die ältere gilt das umso mehr -
über die Zeit der Erlebnisgeneration hinaus zu sichern und
nicht zuletzt gegenüber möglicher politischer
Instrumentalisierung zu schützen, bedarf die staatlich
organisierte Erinnerungskultur dringend der Ergänzung durch
bürgerschaftliches Engagement.
Weit vor allen praktischen, am Ende meist auch finanziellen
Erwägungen liegt hier die innere Begründung für die
Unverzichtbarkeit bürgerschaftlichen Engagements für die
reife Erinnerungskultur einer demokratisch verfassten Gesellschaft.
Zugespitzt formuliert: eine Gesellschaft, die das nationale
Gedächtnis an ihre politischen Institutionen abtritt, hat sich
von der Kultur der Erinnerung schon weitgehend verabschiedet, die
sie nur im Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und
gesellschaftlicher, staatlicher und privater Verantwortung
überzeugend entwickeln kann.
Der Generaldirektor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat
aus guten Gründen und mit vollem Recht daran erinnert, dass
dieses weltweit beispiellose Ensemble von Museen seinerseits ein
Beispiel für die Verbindung von staatlicher und
bürgerschaftlicher Verantwortung ist. Dieses Museum und der
gesamte Museumskomplex wären ohne staatliche Finanzierung nie
entstanden, aber ohne private Förderer, ohne
bürgerschaftliches Engagement eben auch nicht. Ohne dieses
ganz außergewöhnliche bürgerschaftliche Engagement
wären bestenfalls die Museen zustandegekommen, aber nicht die
Sammlungen, die in diesen Museen einen einzigartigen Platz gefunden
haben. Beides bleibt auch für die Zukunft unverzichtbar. Es
ist sicher mehr als ein historischer Zufall, dass das staatliche
Engagement eher die Hülle betrifft und das
bürgerschaftliche Engagement eher die Substanz. Und ohne hier
jetzt verallgemeinernde Kompetenzzuweisungen vornehmen zu wollen,
empfiehlt sich jedenfalls auch dieser Zusammenhang in Erinnerung
behalten zu werden.
Was die konkrete Zuordnung von Verantwortlichkeiten im politischen
Feld betrifft, haben wir in Deutschland eine zwar komplizierte,
aber übersichtliche Lage. Immer dann, wenn wir über
anspruchsvolle Themen der Förderung von Kunst und Kultur
reden, ist der Bund im Prinzip nicht zuständig. Sein
finanzielles Engagement wird geduldet, konstituiert aber nach dem
Verständnis der übrigen Beteiligten keine eigene
Kompetenzen. Hart an der Grenze der Verfassungswidrigkeit hat der
Bund allein für die deutschen Stätten des Weltkulturerbes
seit Beginn der 90er Jahre etwa 800 Millionen Euro ausgegeben. Und
wenn die Museumsinsel eines Tages in allen ihren Bestandteilen in
vollem Glanze wieder auferstanden sein wird, werden wir den
bemerkenswerten Betrag von mindestens 1,5 Milliarden Euro an einem
Standort investiert haben, der nach der weitgehenden Verabschiedung
der Länder aus der finanziellen Mitverantwortung für die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz trotz der von ihnen mit
Fleiß reklamierten sogenannten Kulturhoheit folgerichtig vom
Bund aufgebracht wird.
Die Zuständigkeit für Denkmalschutz und Denkmalpflege
liegt nach unserer Verfassungsordnung bei den Ländern. Die
meisten Länder haben dieser Aufgabe auch Verfassungsrang
zugewiesen, sie sind damit übrigens mindestens in der
Verfassungstheorie deutlich weiter als der Bund, der um die Frage,
ob überhaupt und, wenn ja, in welcher Form er die
Staatszielbestimmung als Kulturstaat ebenfalls in seiner Verfassung
verankern sollte, nach wie vor mehr oder weniger eindrucksvolle
Pirouetten dreht.
Mit der Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens von 1972 durch
die Bundesrepublik Deutschland hat der Kulturgüterschutz in
unserem Land eine zusätzliche Dimension erhalten. Inzwischen
gibt es folgerichtig auch die ersten auffälligeren Beispiele
für die Spannungen, die sich aus diesem Anspruch des - ein
wenig despektierlich ausgedrückt - denkbar prominentesten
Denkmalschutzes auf der einen Seite und städtebaulichen
Entwicklungsambitionen auf der anderen Seite ergeben können.
Die Auseinandersetzung um die Bebauung am Kölner Dom oder die
Waldschlösschenbrücke im Dresdner Elbtal sind die
jüngsten, aber sicher nicht die letzten spektakulären
Beispiele.
Sie geben gleichzeitig einen Anhaltspunkt für die etwas
sorgfältigere Beschäftigung mit dem
Spannungsverhältnis zwischen Traditionspflege und
Denkmalschutz auf der einen Seite und Zukunftsplanungen und
Entwicklungsperspektiven, was immer man darunter auch im einzelnen
verstehen mag, auf der anderen Seite. Ich empfehle, dieses
Spannungsverhältnis so ernst, aber auch so komplex zu nehmen
wie es ist und es nicht vorschnell durch Verallgemeinerungen und
Übertreibungen auflösen zu wollen. Verallgemeinerungen
sind bekanntlich immer falsch, diese möglicherweise auch.
Ich will das Problem, um das es in diesem Zusammenhang geht, an
vier prominenten Beispielen verdeutlichen, jeweils durch Autoren,
die für das heute Abend von mir behandelte Thema allemal mehr
Expertise mitbringen als ich.
Dankwart Guratzsch hat vor ein paar Jahren in einem Artikel den
Paradigmenwechsel im Verhältnis von Denkmalschutz und
Städtebau mit dem Satz beschrieben: "Nicht mehr das Neue,
sondern der Bestand ist die Zukunftsressource. Bauen heißt
umbauen, anbauen, rückbauen. Kulturdenkmale sind nicht mehr
nur durch Abriss, sondern auch vermehrt durch Überformung
bedroht." Das ist sicher gut beobachtet, in der Verallgemeinerung
scheint es mir aber voreilig. Und dass die Faszination für den
Bestand die Faszination für das Neue längst und ein
für allemal hinter sich gelassen hätte, wäre aus der
Perspektive von Denkmalschützern zu schön, um wahr zu
sein. Es würde im übrigen die Mitgliederwerbung solcher
Stiftungen, Herr Vorsitzender, unnötig erschweren. Auch
deswegen muss ich diese Verallgemeinerung als Schirmherr dieser
Stiftung ausdrücklich zurückweisen.
In der Zeitschrift "Denkmalspiegel" der Stiftung Denkmalschutz
Berlin heißt es: "Die Beschleunigungsgesellschaft wird
unausweichlich die Wertigkeit des Beharrens, des Bewahrens und des
Beständigen senken. Damit wird sich folgerichtig die Bedeutung
des Denkmalschutzes verringern." Da ist sicher wieder etwas daran,
aber ähnlich apodiktisch wird hier das genaue Gegenteil von
dem formuliert, was ich vorhin als voreilige Verallgemeinerung
zurückgewiesen habe. Ob wir uns überhaupt noch in der
Beschleunigungsgesellschaft befinden, ist mit Blick auf einige
neuere, bemerkenswert erfolgreiche Publikationen auch im Wortsinn
fragwürdig geworden. Dass im übrigen die
Beschleunigungsgesellschaft, so sie denn noch oder immer noch
existiert, "unausweichlich die Wertigkeit des Beharrens senke",
darüber wird man mindestens streiten dürfen.
Drittes Beispiel:. Hanno Rauterberg schreibt in einer seiner vielen
verdienstvollen Beiträge zu diesem Thema in der "Zeit": "Die
Republik verliert ihr kulturelles Erbe. Über 100 000
Baudenkmale sind in den letzten Jahren zerstört worden. Und
die Vernichtung geht weiter. ... Geschichtsfroh,
vergangenheitsselig, so hat die Republik es gern. Das ist die eine
Wahrheit. Die andere ist der Krieg. Man muss es so nennen, denn
ohne Unterlass wird gesprengt, zertrümmert, geschlagen. Es
sterben keine Menschen, es werden nur alte Häuser
ausgehöhlt und abgeräumt. Und doch ist es eine Schlacht.
Seit 1945 sind weit mehr Baudenkmale gefallen als im Bombenkrieg.
... Ein Land verliert sein Gedächtnis."
Ich glaube nicht, dass irgendjemand den Mut hätte, dies
für grundfalsch zu erklären. Aber dass es die
Wirklichkeit des Umgangs dieser Gesellschaft mit ihrer
Vergangenheit, auch mit den baulichen Denkmälern ihrer
Vergangenheit vollständig wiedergäbe, das wird man auch
schwerlich behaupten können. Und wenn er im gleichen Artikel
zu Recht darauf verweist, dass natürlich in der Regel nicht
die Renommierobjekte gefährdet sind, sondern eher die
alltäglichen Bauten, Brücken, Fabriken, Wohnhäuser,
dann macht diese Relativierung das eigentliche Problem schon ein
bisschen deutlicher, aber unterschlägt wiederum, was wir
gerade in den vergangenen Jahren an eindrucksvollen und
erfolgreichen Bemühungen zur Wiederherstellung scheinbar
endgültig verlorengegangener Bausubstanz gerade auch
"unauffälliger Baudenkmäler" in diesem Land erlebt und
erreicht haben.
"Denkmalschutz", schreibt Hanno Rauterberg, "ist kein Armuts-,
sondern ein Reichtumsproblem," und hat auch damit wieder insoweit
recht, als im größeren Teil der Menschheitsgeschichte
das Risiko des Abrisses von Häusern ungleich geringer war als
heute, weil es viel mühsamer war und viel länger dauerte,
während wir heute dafür ein verlängertes Wochenende
brauchen - so es sich nicht um den Palast der Republik handelt: das
ist offensichtlich ein Jahrhundertprojekt, und ich träume
manchmal davon, dass der Wiederaufbau des Schlosses schneller
vollzogen werden könnte als der Abriss dieses Palastes.
Aber in der Verallgemeinerung ist auch Rauterbergs Befund wieder
fragwürdig, denn der bejammernswerte Zustand vieler
Städte in der damaligen DDR war ja nun allemal eher ein
Armuts- als ein Reichtumsproblem. "Ruinen schaffen ohne Waffen"
lautete der fröhliche Spott zur Beschreibung eines
gewissermaßen in Echtzeit zu beobachtenden kontinuierlichen
Verfallsprozesses. Und es ist diese in ihrer Erinnerungskultur
gelegentlich unterschätzte vereinigte "Deutsche Demokratische
Republik", die das wiederhergestellt hat, was sich manche
außer älterer Bildbände als reales Bild solcher
Städte wie Weimar oder Dresden, Potsdam oder Görlitz
eigentlich nicht mehr hatten vorstellen können.
Ich empfehle deswegen neben dem berechtigten notwendigen kritischen
Blick auf Realitäten und auf damit häufig verbundene
Versäumnisse auch die Erfolge, auch die Errungenschaften nicht
aus dem Auge zu verlieren: sie stützen nicht nur die
Erinnerung, sondern auch das Selbstbewusstsein.
Nun gibt es eine vierte Generalkritik, die ich als Beispiel
für die Mischung von Bequemlichkeit und Leichtfertigkeit
anführen möchte, mit der wir uns doch gerne
Verallgemeinerungen komplizierterer Zusammenhänge beugen.
Joachim Fest hat kurz vor seinem Tode eine
außergewöhnlich kritische Bemerkung zum deutschen
Geschichtsbewusstsein gemacht. "Deutschland", schreibt er, "hat
einerseits Angst vor dem Neuen, und andererseits ist es völlig
geschichtslos. Das Gestern hat in Deutschland keine Anwälte,
nicht erst seit Hitler. Die Deutschen haben sich stets in
irgendwelche Zukünfte hineingeträumt, aber die sind ihnen
durch den Zusammenbruch der Ideologien und Utopien genommen."
Auch in diesem Zusammenhang ist richtig, dass die Klage über
die angebliche Geschichtsvergessenheit der Deutschen ein Leitmotiv
jedenfalls der konservativen Kulturkritik über lange Zeit
gewesen ist. Ich persönlich habe den Vorwurf einer quasi
notorischen Geschichtsvergessenheit - schon gar im internationalen
Vergleich - immer für einigermaßen sonderbar gehalten.
Mir fallen wenige Länder ein, die schon gar mit ihrer
jüngeren Geschichte ähnlich gründlich, ähnlich
skrupulös, ähnlich kontinuierlich und systematisch
umgehen wie die Deutschen, die dafür weiß Gott auch
besonderen Grund haben. Aber sie haben sich vor dieser Aufgabe auch
nicht gedrückt. Wenn sich hier unter dem Gesichtspunkt
Erinnerungskultur ein Vorbehalt anmelden lässt, dann
würde er nach meinem persönlichen Empfinden weniger der
vermeintlichen Vernachlässigung der Geschichte, als vielmehr
der verständlichen, aber unzulässigen Verkürzung der
Geschichte gelten. Denn die deutsche Geschichte hat weder 1933
begonnen, noch war sie 1945 zu Ende. Und so richtig die
Unaufgebbarkeit einer systematischen gründlichen und
dauerhaften Beschäftigung mit der monströsesten Verirrung
ist, die es nicht nur in der deutschen Geschichte je gegeben hat,
so unbegründet und so verhängnisvoll ist ein noch so gut
gemeinter Versuch, die Nationalgeschichte eines Landes auf eine
solche Periode reduzieren zu wollen.
Auch deswegen registriere ich mit besonderer Sympathie, auf welch
enormes Interesse in den letzten 10 bis 15 Jahren historische
Ausstellungen in Deutschland gestoßen sind. Auch und gerade
über Zeiten, an die sich niemand mehr aus eigener Erinnerung
oder aus Erzählungen von Vorfahren erinnern kann. Ob wir die
jüngste Ausstellung in Trier über Konstantin nehmen oder
die großen Ausstellungen der jüngeren Vergangenheit
über Karl den Großen, über die Ottonen, über
die Salier und Staufer, über das Heilige Römische Reich
Deutscher Nation, sie allesamt haben jeweils mit
Rekordbesucherzahlen nicht nur die Fachleute angezogen, sondern
offensichtlich eine breite Öffentlichkeit erreicht. Und das
ist ein außerordentlich ermutigendes Zeichen nicht nur
für das Interesse an einer aktiven Auseinandersetzung mit der
eigenen Nationalgeschichte, sondern es ist auch ein kleiner Beleg
für Erinnerungskultur.
Am Freitag dieser Woche wird der Deutsche Bundestag über die
Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals abstimmen. Alle
Indizien deuten darauf hin, dass dieser Antrag, der in beinahe
identischer Form vor ein paar Jahren schon einmal gestellt und
damals gescheitert war, diesmal mit breiter Mehrheit verabschiedet
werden wird. Auch dies ist ein Indiz für Erinnerungskultur und
zugleich dafür, dass Erinnerungskultur Zeit braucht, dass
Erfahrungen reifen müssen, so wie ich mir übrigens
ausdrücklich wiederum die Zeit wünsche, die eine
überzeugende Umsetzung dessen, was damit zum Ausdruck kommen
soll, dringend braucht. Die keineswegs zufällige, auch
keineswegs banale, sich andeutende Auseinandersetzung darüber,
ob ein solches Freiheits- und Einheitsdenkmal unbedingt in Berlin
errichtet werden müsste oder besser, wie vor ein paar Tagen
ausdrücklich vom Oberbürgermeister reklamiert, nach
Leipzig gehöre, ist ja keineswegs mit lokalpatriotischen
Reflexen überzeugend zu beantworten. Vielmehr hat der eine
Vorschlag, dieses Einheits- und Freiheitsdenkmal in der Hauptstadt
zu errichten, ebenso seine Logik wie die ihr entgegengesetzte oder
an die Seite gestellte Überlegung, die Freiheitsbewegung als
eine herausragende Form "bürgerschaftlichen Engagements" eben
nicht in der Hauptstadt, sondern da, wo sie in einer besonderen
Weise manifest geworden ist, deutlich werden zu lassen.
Um es am praktischen Beispiel dieses großen und sicher auch
Aufmerksamkeit erzeugenden Projektes zu verdeutlichen, werden wir
für die überzeugende Umsetzung dieses Beschlusses gleich
zwei Wettbewerbe brauchen. Erstens einen Konzeptwettbewerb und
zweitens einen Gestaltungswettbewerb. Bevor wir ernsthaft über
die Frage nachdenken, jedenfalls bevor wir sie wirklich entscheiden
können, wie ein solches Denkmal aussehen soll, müssen wir
uns darüber verständigen, was es eigentlich zum Ausdruck
bringen soll. Ob wir, was ja vieles für sich hat, die
Ereignisse der Jahre 1989 in Deutschland damit dem Gedächtnis
nachfolgender Generationen nahebringen wollen oder die Geschichte,
die die Verbindung von Einheit und Freiheit erst möglich
gemacht hat. Dann muss aber mindestens die Serie der Ereignisse mit
eingezogen sein, die spätestens mit dem Arbeiteraufstand in
der DDR 1953 begonnen hat und die über Budapest 1956 und Prag
1968 über die Solidarnosc in Polen zur Überwindung der
Teilung Europas und Deutschlands geführt hat. Und ich halte
die Frage nicht nur für erlaubt, sondern für notwendig,
ob wir, wenn wir ein Denkmal für Einheit und Freiheit - in
dieser oder der umgekehrten Reihenfolge - in Berlin oder anderswo
oder vielleicht auch, das wäre ein besonders ehrgeiziges
Konzept, in der Bezugnahme von Denkmälern aufeinander
errichten wollen, ob wir dann nicht nur legitimiert, sondern sogar
verpflichtet sind, an den späten Erfolg der Bemühungen um
Freiheit und Einheit zu erinnern und dabei auch an die
gescheiterten Anläufe, die es in unserer Nationalgeschichte
gegeben hat, ohne die dieses Ergebnis heute schwerlich historisch
zu erklären ist.
Lothar de Maizière hatte in seiner Begrüßung das
Hambacher Fest genannt, das sich in diesem Jahr zum 175. Male
jährt. Die Einheits- und Freiheitskämpfer des frühen
19. Jahrhunderts haben sich gewiss nicht durch weniger
Ernsthaftigkeit oder durch weniger Mut, durch weniger Zivilcourage
ausgezeichnet als die der Jahre 1989/90. Sie waren nur nicht
erfolgreich. Und wie man mit diesem und dem anderen Teil der
Geschichte umgehen will, ob und welchen Zusammenhang man hier
herstellen kann und muss, muss allemal bedacht sein, bevor wir
einen Architektenwettbewerb europaweit ausschreiben.
Meine Damen und Herren, das Thema "Erinnerungskultur und
Bürgergesellschaft" hat viele, leider auch viele komplizierte
Aspekte. Das Verhältnis von Tradition und Zukunft gehört
zu diesen Komplizierungen.
Der diesjährige Träger des Büchnerpreises, Martin
Mosebach, hat vor ein paar Tagen in einem Interview gesagt: "Die
meisten Leute sind der Traditionslosigkeit überhaupt nicht
gewachsen." Und er hat in diesem Zusammenhang einen
wunderschönen Satz von Dalì zitiert, der gesagt hat,
"wer sich nicht der Tradition unterwirft, ist dazu verurteilt,
Plagiate herzustellen. Weil wir uns sowieso wiederholen
müssen", wie er hinzugefügt hat.
Dieser von Mosebach zitierten Bemerkung von Dalì will ich
eine offenkundig nicht identische Einschätzung von Johann
Wolfgang von Goethe gegenüberstellen. "Altes Fundament ehrt
man", hat er geschrieben, "darf aber das Recht nicht aufgeben,
irgendwo wieder einmal von vorn zu gründen." Das könnte
so etwas wie ein Ermutigungsmotto für alle real existierenden
Baudezernenten und Senatoren sein, deren Amt sich natürlich
auch nicht darauf reduzieren darf, zu konservieren oder
wiederherzustellen, was frühere Generationen
liebenswürdigerweise und dankenswerterweise geschaffen haben,
sondern dass es auch erlaubt und in bestimmten Situationen
möglicherweise auch unvermeidlich ist, neu zu
gründen.
Dass wir bei diesem Thema am Ende nicht nur über abstrakte
Prinzipien verhandeln, sondern auch über handfeste Zahlen,
Daten und Kosten, darf bei einem ernsthaften Versuch der
Bestandsaufnahme über das Verhältnis von
Erinnerungskultur und Bürgergesellschaft jedenfalls nicht
unterschlagen werden.
Kultur im allgemeinen ist wie der Denkmalschutz im besonderen auch
ein Kostenfaktor. Allerdings auch ein Wirtschaftsfaktor. Und
insbesondere, wie immer deutlicher wird, ein Standortfaktor. Im
internationalen Standortwettbewerb, der ganz gewiss nicht in erster
Linie nach kulturellen Prinzipien stattfindet, wird der Stellenwert
der Kultur für die tatsächlichen Standortentscheidungen
regelmäßig unterschätzt. Er ist längst kein
weicher Faktor mehr. Im Wettbewerb der Metropolen spielt neben der
Einschätzung der logistischen Vorteile der Erreichbarkeit, der
Mobilitätsbedingungen, der Kostenstrukturen die
Lebensqualität, auch und gerade in Kultur gemessen, eine immer
größere, in vielen Untersuchungen nachgewiesene
Rolle.
Ich habe vor ein paar Jahren mit einen Anflug von Besorgnis
registriert, wie die Auftragsvergabe von sogenannten
kulturwirtschaftlichen Studien sich inflationierte, weil immer mehr
Städte oder auch Länder analysiert haben wollten, ob sich
Investitionen in Kultur eigentlich rechnen. Inzwischen empfehle ich
jedem potenten Förderverein, solche Studien aus den
spärlich vorhandenen Mitgliedsbeiträgen notfalls selbst
in Auftrag zu geben, denn alle diese Untersuchungen kommen immer
wieder zum gleichen Ergebnis: Kultur rechnet sich.
Das, was an Mitteln investiert wird, kommt übrigens mit einer
erstaunlichen lokalen und regionalen Treffergenauigkeit in die
Kommunen, in die Regionen zurück, die damit ihre
Lebensqualität, ihre Attraktivität erhöhen, sowohl
für Menschen, die dort dauerhaft leben, wie für solche,
die sie besuchen wollen und ihre Einrichtungen in Anspruch
nehmen.
So führt die steuerliche Begünstigung von
Denkmalschutzaktivitäten, die meist mit einem hohen
bürokratischen Aufwand erkauft werden muss, zwar zu
jährlichen Steuerausfällen von gut 100 Millionen Euro im
Jahr. Denen stehen allerdings gut 1 Milliarde Euro gegenüber,
die durch diese Förderung an zusätzlichen Einkommen der
daran Beteiligten erzeugt werden. Und was fast noch schöner
ist: auch der Fiskus profitiert von eben den Begünstigungen,
die häufig voreilig beklagt werden. Steuerausfällen von
119 Millionen Euro stehen 260 Millionen Euro an Mehreinnahmen durch
die Steuern gegenüber, die durch den Multiplikationseffekt
dieser Investitionen tatsächlich abgeschöpft worden sind.
Also niemand muss, wenn er sich dafür engagiert, mit
eingezogenem Kopf durch die Gegend laufen, in der Annahme, dieses
Thema eigne sich bestenfalls für Festvorträge in einem
verschworenen Kreis von Leuten, die ohnehin davon überzeugt
sind. Man kann und darf über dieses Thema auch mit
Finanzexperten reden und man muss die Auseinandersetzung mit
Wirtschaftsförderern und Haushaltspolitikern über dieses
Thema ganz gewiss nicht scheuen.
Die Begriffe Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft tauchen
zum ersten Mal in einer halbwegs öffentlichkeitswirksamen
Weise in der Zeit der Aufklärung auf. Sie dienen bei Autoren
wie Immanuel Kant zur Verdeutlichung der Vision einer Gesellschaft,
die es damals selbstverständlich nicht gab, aber die er sich
vorstellte als ideales Gegenmodell zu einem autoritär
verfassten Staat, als eine Gesellschaft von Menschen, die ihre
eigene Verantwortung selbst in ihre Hände nehmen und die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie es überhaupt tun
können.
Es gab dann ein gutes halbes Jahrhundert später eine
Einfärbung dieses Begriffs sowohl bei Hegel wie insbesondere
natürlich bei Karl Marx, der statt von der
Bürgergesellschaft von der bürgerlichen Gesellschaft
sprach und mit offenkundig und unbestritten polemischer Absicht
dies zur Charakterisierung von politischen Auseinandersetzungen
zwischen den Klassen einer Gesellschaft benutzte. Im Laufe der Zeit
entwickelten die Begriffe bürgerliche Gesellschaft oder
Bürgergesellschaft bei den einen eine fast mythische
Bedeutung, als Ausdruck gewissermaßen der Zugehörigkeit
zu einer solchen politisch-philosophischen Familie, während es
mit einer ähnlichen Folgerichtigkeit eine nachvollziehbare
Vorsicht in der Benutzung dieser Begriffe in dem Teil der
Gesellschaft gab, der mit ihnen gemeint war.
Die Wiedergeburt dieses Begriffs der Bürgergesellschaft hat
stattgefunden in der Auseinandersetzung mit den autoritären
kommunistischen Systemen Mittel- und Osteuropas. Die
Bürgergesellschaft, die es nicht hatte geben dürfen, hat
sich gewissermaßen wiederentdeckt und als virtuelle
Alternative zu den tatsächlichen Verhältnissen definiert.
Wir finden in Polen, in Ungarn, in der Tschechischen Republik und
eben auch in der DDR eindrucksvolle Beispiele für die
Wiedergeburt des Begriffs und für die Wiederentdeckung der
sozialen und politischen Kraft, die in genau diesem Begriff zum
Ausdruck kommt.
Lothar de Maizière hat in seiner Regierungserklärung
als erster und letzter frei gewählter Ministerpräsident
der DDR am 19. April 1990 ausdrücklich von der
Zivilgesellschaft als notwendige Grundlage für die Erneuerung
unserer Gesellschaft gesprochen und damit ein Leitmotiv vorgegeben,
das sich glücklicherweise über die Einheit hinweg
gerettet hat.
Nach den schwerlich überbietbaren Turbulenzen der deutschen
Geschichte wird hoffentlich niemand mehr zu der
übermütigen Vermutung neigen, irgendetwas sei ein-
für allemal gesichert. Das, was uns besonders wichtig ist, das
müssen wir eben besonders ernst nehmen. Dies gilt keineswegs
nur für den Denkmalschutz.
Robert Musil verdanken wir den schönen Hinweis: "Das
Auffallendste an Denkmälern ist, dass man sie nicht bemerkt."
Wie jede Verallgemeinerung ist auch diese falsch, auch wenn der
Zusatz "Denkmäler scheinen gegen Aufmerksamkeit
imprägniert zu sein", sich mit beinahe unendlich vielen
Beispielen belegen ließe. Der harte Kern der
unzulässigen Verallgemeinerung ist der Hinweis darauf, dass
die Begeisterung für Denkmäler alleine nicht hilft.
Sinnvoll ist das Engagement dann und nur dann, wenn wir damit
Zusammenhänge wieder herstellen und in das Bewusstsein dieser
und folgender Generationen bringen, die uns besonders wichtig
erscheinen. Deshalb sollten wir öffentliche
Auseinandersetzungen um den Bau, die Erhaltung oder
Wiederherstellung von Denkmälern nicht als Zumutung, sondern
als Chance begreifen. Das erfordert allerdings dauerhaftes
Engagement des Kulturstaates wie der Bürgergesellschaft.