Vor zwei Wochen ereignete sich der nachfolgende Vorfall. Ich ging in Wilmersdorf in Berlin spazieren. An einer stark befahrenen Kreuzung hörte ich hinter mir plötzlich quietschende Reifen und einen lauten Knall. Ich drehte mich um und sah einen am Boden liegenden Rennradler, der mit einem Auto soeben zusammengestoßen war. Instinktiv eilte ich zu dem Radfahrer, um ihm zu helfen. Mit meinem Handy rief ich einen Rettungswagen herbei. Der Radfahrer stand offensichtlich unter Schock und klagte über Schmerzen am Arm und an der Hüfte. Währenddessen sprang der am Unfall beteiligte Pkw-Fahrer aus seinem Wagen und hatte nichts anderes zu tun, als nachzuschauen, ob sein Auto durch den Aufprall Kratzer abbekommen hatte. Gleichzeitig eilte ein sichtlich erregter Passant herbei, um den immer noch am Boden liegenden verletzten Radfahrer anzuherrschen, wie dieser dazu komme, bei "Rot" über die Ampel zu fahren.
Ein anderer ebenso aufgebrachter Pkw-Fahrer, der den Unfall offenbar auch gesehen hatte, machte den Radfahrer ebenfalls "zur Schnecke" und bot sich als Zeuge an. Er werde gerne alles bestätigen, der Radfahrer sei eindeutig schuld gewesen, ganz klar. In diesem Moment platzte mir der Kragen, was nicht gerade häufig vorkommt. Ich fragte in die Runde, weshalb keiner der drei sichtlich erregten Passanten daran denke, sich um den verletzten Radfahrer zu kümmern. Statt dem Verletzten beizustehen, würden alle nur über diesen herfallen und ihn beschimpfen.
Daraufhin zogen sich zwei der Zeugen mit beleidigter Miene zurück, und der Fahrer des Unfallwagens entschuldigte sich kleinlaut mit der Begründung, dies sei sein erster Unfall. Seine Beifahrerin hatte es - nebenbei bemerkt - nicht einmal für nötig gehalten, aus dem Wagen zu steigen. Nachdem der Rettungswagen eingetroffen war, konnte auch ich mich auf den Heimweg machen, allerdings mit sehr gemischten Gefühlen.
Danach ging mir dann immer wieder eine Frage durch den Kopf: Weshalb hatten die Passanten sofort auf den hilflosen verletzten Radfahrer verbal eingedroschen statt ihm beizustehen? Was kann Menschen so in Rage bringen, dass sie derart umbarmherzig reagieren? Ich habe darauf keine schlüssigen Antworten und erst recht keine nachvollziehbaren Entschuldigungen gefunden. Auch ich selber habe mich sicher schon mehr als einmal aufgeregt über allzu undisziplinierte Radfahrer, die keine Verkehrsregeln zu kennen scheinen. Das darf mich aber doch auf gar keinen Fall dazu verleiten, einem in Not geratenen Menschen Hilfe zu verweigern!
Szenenwechsel: An einem Sonntagmorgen sitze ich am Frühstückstisch und habe endlich mal wieder Ruhe und Muße, die Zeitungen ausführlich zu lesen, was nicht gerade häufig der Fall ist. Und beim Aufschlagen der Sportseiten, bleibe ich sozusagen "hängen" bei einem Bericht über die recht kritischen und freimütigen Äußerungen eines Fußballspielers. Sie werden schon ahnen, es handelt sich um Phillip Lahm von Bayern München.
Worum ging es nun bei der Kritik dieses Fußballers. Dieser hatte die fehlende "Spielphilosophie" in seinem Verein angeprangert: Man könne keine klare und eindeutige Linie erkennen; immer wieder seien für viel Geld neue Spieler "eingekauft" worden ohne zu klären, welche besondere Rolle diese "neuen" übernehmen sollten. Mit dieser Kritik setzte sich der aufmüpfige Spieler allerdings zwischen sämtliche Stühle seines Fußballclubs. Alle fühlten sich angegriffen: Vereinspräsidium, Manager, Trainer und wer sonst noch wichtig ist im Club. Prompt folgte dann auch die Reaktion des Managers. "Mit Wut im Bauch", wie die Zeitung schrieb, kündigte dieser nach dem Spiel Konsequenzen an: Der aufmüpfige Spieler "werde seine Kritik noch bedauern". Das klang nach vernichtender Rache.
Statt sich mit der Kritik des Spielers sachlich und inhaltlich auseinanderzusetzen, hatte der Manager nichts besseres zu tun, als das Fallbeil in Position zu bringen nach dem Motto: "Wer nicht die Klappe halten und seine Kritik für sich behalten kann, der hat in diesem Club nichts verloren!"
Nun werden Sie, liebe Gemeinde, vielleicht fragen, was haben diese von mir geschilderten Begebenheiten mit dem heutigen Predigttext - also mit unserem Gleichnis vom Feigenbaum zu tun?
Worum geht es im Gleichnis? Der Besitzer eines Weinberges hatte vor mehr als drei Jahren einen Feigenbaum gepflanzt. Und weil dieser Feigenbaum aus unerfindlichen Gründen keine Früchte tragen wollte, gab der Besitzer seinem Gärtner die Anweisung, den Baum zu fällen. Der Gärtner machte hingegen den Vorschlag, noch ein Jahr mit dem Fällen zu warten.
Stattdessen ordentlich düngen und wässern, das würde vielleicht helfen. Wenn der Feigenbaum dann immer noch keine Früchte trage, könne man ihn immer noch umhauen.
Unser Gleichnis vom Feigenbaum wird immer wieder gerne genutzt als Beispiel für Buße, also Umkehr, Sinneswandel und Neuanfang. Aber steht das Gleichnis nicht auch als Mahnung dafür, nicht sofort den Stab zu brechen über andere Menschen? Und zwar auch dann nicht, wenn der Andere sich vielleicht nicht ganz richtig verhalten und im schlimmsten Fall sogar Schuld auf sich geladen hat?
Aber, liebe Gemeinde, bedeutet Buße nicht auch so etwas, wie die Erkenntnis, dass wir Christenmenschen in der Pflicht stehen, nicht gleich das Negative zu unterstellen, wenn wir etwas bewerten oder andere beurteilen?
Müssen wir nicht vielmehr gerade dann gegenhalten und für mehr Gelassenheit und Sanftmut werben, wenn andere die schnellen und radikalen Antworten haben wollen? Und bedeutet Buße in der heutigen Zeit nicht auch, dass wir uns immer wieder selbstkritisch fragen, was wir selber tun können, um unsere Gemeinschaft, unser Land voranzubringen?
Bei derartigen grundsätzlichen Themen pflege ich mir im Zweifelsfalle immer selber die Frage zu stellen: Was würde Jesus jetzt dazu sagen? Wie würde er wohl darauf reagieren? Und nicht selten - das ist meine Erfahrung - fällt dann die Lösung für das jeweilige Problem viel leichter.
Ein Blick ins Evangelium hilft da weiter. Jesus hat Zeit seines Daseins auf Erden vorgelebt, wie er Buße begreift.
Unabhängig von der Bergpredigt gibt es viele Beispiele dafür, wie der Namensgeber für die Christen in der Welt mit den sogenannten schwierigen Fragen umgeht. Von ganz wesentlicher Bedeutung ist die Tatsache, dass Jesus niemals "einfache Antworten" gegeben hat. Ganz im Gegenteil. Es waren überraschende Antworten. Antworten, auf die man nicht unbedingt gefasst war. Ob es sich um den Umgang mit Ehebrecherinnen oder um die gerechte Entlohnung von Arbeitern im Weinberg handelt; ob es um die Definition von Barmherzigkeit oder um das Selbstverständnis von uns Christen geht: auch in den zahlreichen anderen Gleichnissen finden wir meistens nicht die Antwort, die wir vielleicht aufgrund einer vordergründigen Logik erwartet hätten.
Für Jesus gibt es eben keine einfachen und vorschnellen Antworten. Er hat nie den Stab gebrochen über Menschen, die durch fremde oder eigene Schuld in Not gerieten.
Er hat sich stets vor diejenigen gestellt, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, am Rande der Gesellschaft stehen, zu den ausgegrenzten Minderheiten zählen.
Deshalb kann es auch nicht sein, dass Buße nur dem heutigen Buß- und Bettag vorbehalten ist. Buße ist nichts Statisches, sondern bezieht sich auf alle unsere Lebensbereiche und zu allen Zeiten!
Und wenn wir über unsere Zukunft reden, dann sollte dabei immer eine zentrale Rolle spielen, welche Lehren wir aus gemachten Fehlern ziehen. Auch das ist konsequent verstandene Buße. Nehmen wir beispielhaft die allgegenwärtige globale Finanzkrise, mit deren Auswirkungen wir es - wie ich persönlich befürchte -noch eine Weile zu tun haben werden.
Ich bin oftmals erstaunt und geradezu erschrocken darüber, wie schnell wir alle, aber insbesondere die Verantwortlichen in der Wirtschaft wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. Fast so, als hätten wir noch vor wenigen Monaten gar nicht unmittelbar vor dem Abgrund einer vernichtenden Weltwirtschaftskrise gestanden hätten, - mit katastrophalen Auswirkungen für die Menschen in allen Erdteilen. Was geht eigentlich in den Köpfen von sogenannten Spitzenmanagern vor, deren Konzerne nur mithilfe von Milliarden-Zuschüssen aus der Steuerkasse gerettet werden konnten, und die sich selber jetzt mal eben so saftige Bonuszahlungen und Gehaltserhöhungen genehmigen?
Aber wir sollten in diesem Zusammenhang nicht nur auf andere schauen. Ist es nicht so, dass wir alle eigentlich viel zu schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen sind und bei der Lektüre der Zeitungen die unangenehmen Wahrheiten gerne geflissentlich überlesen?
Ob es sich um die in existenzielle Not geratenen Konzerne bei uns im Lande, um die katastrophale Lage der Staaten in Zentralafrika, um die weltweiten Bedrohungen aus dem Terrorismus oder um die Umweltprobleme bei uns und anderswo handelt: Alle diese "klebrigen" Themen werden doch ganz gerne von uns verdrängt. Zum einen, weil es keine perfekten Lösungen dafür gibt. Zum anderen aber auch, weil wir schlichtweg nichts damit zu tun haben möchten. Dafür gibt es doch die zuständigen Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft.
Wenn wir Buße wirklich ernst nehmen, haben diese Ausreden aber keine Berechtigung. Wenn wir Buße wirklich verstehen als Chance etwas positiv zu verändern, dann sollte jeder nach seinen Möglichkeiten dazu beitragen, dass der Feigenbaum bei der nächsten Ernte Früchte trägt.
Fangen wir am besten in unserer Kirche damit an! Junge Menschen können mit dem biblischen Begriff "Buße" heute kaum noch etwas anfangen. Buße ist nicht nur veraltet, sondern oftmals sogar eher negativ besetzt. "Für etwas büßen" sagt man landläufig, wenn jemand für eine schlimme Tat verurteilt wird und dann seine Strafe dafür abzusitzen hat. Buße im Sinne von Umkehr und Neubesinnung ist jedoch genau das Gegenteil davon. Buße, wie Jesus sie uns vermittelt, ist die Voraussetzung dafür, dass negative Entwicklungen gestoppt und veraltete Strukturen reformiert werden. Buße, wie wir Christen sie in die heutige Zeit übersetzen, ist auch die Aufforderung, sich einzumischen. Nicht tatenlos zuzuschauen, wenn Fehlentwicklungen und Unrecht sich breit machen. Und in diesem Sinne ist Buße heute die Voraussetzung für verantwortliches christliches Handeln.
So gewinnt diese zentrale christliche Tugend "Buße" unversehens einen attraktiven, hoffnungsvollen Klang: als Konsequenz und Entschlossenheit, zu handeln, einzugreifen.
ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist im Zusammenhang mit der bundesweiten Trauer um den Torwart Robert Enke, der sich selber das Leben nahm. Die beispiellose Anteilnahme der Menschen in unserem Land, die Trauerfeier im Niedersachsenstadion am vergangenen Sonntag, die vielfache Beschäftigung der Medien mit dem Schicksal dieses von schweren Depressionen geplagten Fußballstars. Dies alles habe ich auch als etwas empfunden, was mit Buße zu tun hat. Das, was Robert Enke in den Freitod getrieben hat, seine seelische Erkrankung nämlich, jetzt nicht zu stigmatisieren, sondern offen zu benennen. Und mit dieser offenen und ehrlichen Debatte vielleicht auch dazu beitragen zu können, dass andere Menschen in vergleichbarer Situation den Mut und die Kraft finden, sich zu ihren Depressionen zu bekennen und sich helfen zu lassen.
Diese besondere Form der kollektiven Buße ist - wie ich finde - ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich unsere ganze Gesellschaft quasi von heute auf morgen positiv weiter entwickelt. Der tragische Tod eines Fußballhelden bewirkt millionenfache Solidarität und den einmütigen Willen, den Mitmenschen mit seinen Sorgen und Problemen nicht sich selbst zu überlassen. Manchmal wachsen die Früchte am Feigenbaum eben schneller als wir uns das in unseren kühnsten Träumen vorstellen können.
Amen