BÜRGERKONFERENZ
Sie gelten als europamüde. Doch viele Bürger wollen mitentscheiden.
Als das Telefon eines Abends im vergangenen November klingelte und eine freundliche Callcenter-Stimme fragte, ob sie Lust habe, auf einer Bürgerkonferenz in Berlin über die Zukunft Europas zu debattieren, überlegte Carla-Maria Rune nur kurz und sagte spontan "ja". Wie sich die Europäische Union entwickelt, das ist der 22-jährigen Medizinstudentin aus München wichtig. Auch Franz Ahne will bei Europas Zukunft ein Wörtchen mitreden: Dass die europäische Politik den Dialog mit den Bürgern sucht, findet der Rentner aus dem bayerischen Eschenau eine "gute Sache".
Ahne und Rune sind zwei von 200 repräsentativ für alle Bevölkerungsgruppen nach Geschlecht, Alter, Bildung und Wohnort ausgewählten Bürgern, die am vergangenen Wochenende auf Einladung des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier zur ersten "Europäischen Bürgerkonferenz" ins Auswärtige Amt nach Berlin gekommen sind. Zwei Tage lang sollen sie hier über dringende Fragen der Politik diskutieren, ihre eigenen Ideen für die Zukunft entwickeln - und ganz Nebenbei auch jenen Frust über Bürokratie und Intransparenz der Europäischen Union abbauen, der sich vor zwei Jahren bei Franzosen und Niederländern in der Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags entladen hatte. Das hatte dem europäische Einigungsprozess einen empfindlichen Dämpfer verpasst. "Die Politik hat viele Chancen ungenutzt gelassen", sagt Detlev Groß, Mitarbeiter des Auswärtigen Amts. Man habe die Menschen schlichtweg nicht erreicht, so Groß. "Broschüren zu verteilen, reicht nicht, wir müssen auf die Straße, mit den Menschen ins Gespräch kommen, Dialog und Kontroversen suchen", heißt sein Rezept.
Die Bürgerkonferenzen, die im Februar und März in allen 27 Mitgliedstaaten der EU stattfinden, sollen dafür im 50. Jubiläumsjahr der EU ein Anfang sein. Und tatsächlich haben die Bürger die Politik schon bei der Auftakt-Bürgerkonferenz im vergangenen Oktober in Brüssel überrascht: Damals wählten die Eingeladenen nämlich Themen, mit denen kaum jemand gerechnet hatte: Nicht Arbeit- und Wirtschaftsthemen, sondern Energie, Immigration, Familie und soziale Sicherung. Zu diesen drei Themen, so das Ergebnis der Brüsseler Bürgerkonferenz, sollen sich nun die Bürger auf den nationalen Konferenzen Ideen und Handlungsempfehlungen für die Politik überlegen. Carla-Maria Rune beschäftigt besonders das Thema Immigration: "Ich will, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, die gleichen Chancen in unserer Gesellschaft haben". Deshalb hat sie an ihrer Diskussionsrunde dafür plädiert, das Bildungssystem gerechter zu gestalten. Franz Ahne treibt dagegen der Schutz der Familie um. Er will Eltern besser unterstützen, mehr finanzielle Mittel als bisher für Kinderbetreuung investieren und den Schutz vor Kindesmissbrauch verstärken.
Dagegen hatte in seiner Diskussionsrunde "Familie und Soziale Sicherung" niemand etwas einzuwenden. Ob seine oder die Forderungen von Carla-Maria Rune jedoch in die Bürgererklärung aufgenommen werden, die zum Abschluss der Bürgerkonferenz beschlossen und im Mai an die Spitzen der Europäischen Politik überreicht werden soll, wird die TED-Abstimmung zeigen. Beide sind optimistisch. Was allerdings den konkreten Einfluss der Bürgermeinung auf die Politik angeht, sind Rentner und Studentin skeptisch. "Wir haben nur dann eine Chance, wenn unsere Forderungen nicht allzu utopisch sind", sagt Franz Ahne. "Wahrscheinlich aber haben unsere Vorschläge höchstens mittelfristig Auswirkungen auf die Politik", vermutet Carla-Maria Rune. Trotzdem will sie für die Bürgerkonferenz kein negatives Fazit ziehen: "Mich persönlich haben die Diskussionen weitergebracht."