SPURENSUCHE
Ein Großteil der mutmaßlichen Attentäter des 11. März in Spanien kam aus Marokko. Reportage aus einer Stadt, die ihre Kinder an den Terror verliert.
Wer dieser Tage aus Marokko frühmorgens nach Ceuta, die spanische Enklave auf marokkanischem Territorium reist, muss lange Wartezeiten in Kauf nehmen. "Wir suchen Negerchen", erklärt ein spanische Polizist grinsend, während sein Kollege in zivil penibel den Wagen kontrolliert. Im Gegensatz zu seinem spanischen Amtskollegen ist ein marokkanischer Polizist an einer der vielen Strassensperren auf dem Weg nach Tanger viel offener. "Wir jagen Terroristen", gibt er unumwunden zu.
Nach neuen Attentaten auf Polizeistationen und eine Gaspipeline in Algerien herrscht in Marokko und Ceuta erhöhte Alarmbereitschaft. Die vormals auf Algerien beschränkte salafistische "Gruppe für Predigt und Kampf" (GSPC) hat sich in "Al-Qaida im Maghreb" umbenannt und ihr Kampfgebiet auf alle nordafrikanischen Staaten ausgeweitet. Vergangenen Dezember waren elf Marokkaner in der spanischen Enklave verhaftet worden, die Anschläge auf den städtischen Weihnachtsmarkt und Einrichtungen des spanischen Militärs geplant haben sollen. Fast zeitgleich entdeckten marokkanische Behörden verschiedene Netzwerke, die Selbstmordattentäter für den Irak rekrutierten.
Seit den Anschlägen in Casablanca im Mai 2003, bei denen 33 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt wurden, kommt Marokko nicht mehr zur Ruhe - trotz verschärfter Terrorgesetze, Aufklärungskampagnen und Razzien. Bis heute wurden insgesamt rund 50 Zellen radikaler, gewaltbereiter Islamisten entdeckt, die Attentate im In- und Ausland vorhatten.
Das marokkanische Königreich hat sich den zweifelhaften Ruf als "Brutstätte des Terrorismus" erworben. Nicht zuletzt auch, weil ein Großteil der Angeklagten, denen derzeit in Madrid wegen der Bombenattentate vom 11. März 2004 der Prozess gemacht wird, aus Marokko stammen.
Dort liegt auch Jamaa Merzouak, ein ärmliches Viertel von Tetouan, einer Touristenstadt, die etwa 40 Autominuten von Ceuta entfernt liegt. Vom urbanen Glanz prunkvoller Kolonialbauten, schicker Cafes und Geschäfte oder einer Fußgängerzone der Innenstadt ist in Jamaa Merzouak nichts zu sehen. Die meisten Straßen sind hier ungeteert, die Häuser grau, teilweise unverputzt. Viele Wohnungen haben kein fließendes Wasser, einige sogar keine Elektrizität. Aus dieser trostlosen Gegend kommen einige der Hauptangeklagten des Madrid-Prozesses. Fünf weitere Mittäter stammten ebenfalls aus Tetouan. Sie hatten sich jedoch nach dem Anschlag von Madrid selbst in die Luft gesprengt.
In den vergangenen Monaten sind zudem 30 junge Männer aus Jamaa Merzouak in Richtung Irak verschwunden. 26 weitere wurden im Januar von der marokkanischen Polizei verhaftet. Neun der 30 Verschwundenen sind im Irak von den US-Behörden durch DNA-Analysen identifiziert worden. Sie hatten sich als Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt oder waren bei Guerilla-Aktionen getötet worden.
"In Jamaa Merzouak wohnen sicherlich keine reichen Leute", sagt Jamal Benhayoun, Professor für komparative Kulturwissenschaft an der Abdelmalek-Essadi-Universität von Tetouan. Soziale Faktoren spielten keine entscheidende Rolle, ob jemand zum Selbstmordattentäter werde oder nicht. Jamals Benhayoun hält nichts von der Armutstheorie oder den mangelnden Lebensperspektiven, die als Gründe der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher der arabisch-islamischen Welt vielfach angeführt werden. "Diese Leute sprengen sich doch nicht als Protest gegen Armut in ihrem eigenen Land in die Luft", erklärt der Professor. "Sie sind gebildet, wollen die Welt verbessern und wissen, was sie tun. Schließlich fahren sie 5.000 Kilometer in den Irak und zünden dort die Bombe."
Ganz ähnlich urteilt Abdelhay Moudden, Professor für Politikwissenschaft an der Mohammed-V.-Universität von Rabat. "Alleine sozioökonomische Faktoren als Erklärung für islamischen Fundamentalismus zu nehmen, ist zu kurz gegriffen."Für den Politikwissenschaftler schließt sich ein historischer Kreislauf. "Nach dem Scheitern der sozialistischen Utopie der 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts gab es eine Krise der Utopie. Nun versucht der extremistische, islamische Fundamentalismus leider diese Lücke zu schließen." Die immaterielle Welt, wie die Religion, werde immer attraktiver, und Tod oder Selbstmord würden zu zweitrangigen Kategorien.
Tatsächlich stammen viele der Dschihadisten von Tetouan aus Familien des gebildeten Mittelstandes. Moncef Benmassaud, der im Irak als vermisst gilt, besuchte die Universität und war ein ausgezeichneter Student. Sein Vater hat im Stadtzentrum ein eigenes Geschäft für Autoersatzteile. "Moncef war ein ruhiger Typ", erzählt Rait, ein Studienkollege Moncefs. "Er konzentrierte sich aufs Studium und wollte mit Mädchen nichts zu tun haben." Seine tief religiöse Überzeugung habe man auf den ersten Blick erkennen können. Er trug Bart, weißes Hemd und Hose, dazu immer eine Kopfbedeckung. Eine radikale Einstellung habe man nur bei Diskussionen über Palästina, den Irak oder über die Rolle der Frau gemerkt, erinnert sich Rait. "Frauen sollten nicht arbeiten und Schleier tragen. Dschihad war für ihn die einzige Lösung in Palästina und im Irak."
Moncef Benmaussaud war zusammen mit seinem Freund Abdelmonem Amakchar El Amrani von einem Tag auf den anderen verschwunden. Am 6. März 2006 fuhr der 21-jährige Abdelmonem mit einem mit Bomben beladenem Auto im irakischen Baquba in eine Trauerprozession und tötete dabei 6 Menschen und verletzte weitere 27.
Vor ihrer Abreise in den Irak besuchten Moncef und Abdelmonem regelmäßig die El- Yazid-Moschee in ihrem Viertel. Auch alle anderen "Irak-Märtyrer" und einige der Madrid-Attentäter sollen dort gebetet haben. Auf den ersten Blick ist die Moschee, die abseits in einer kleinen Seitenstrasse liegt, nicht als solche zu erkennen. Das Gelände ist von großen, verrosteten Blechen eingezäunt. An der grün lackierten Tür hängt ein großes Vorhängeschloss. "Hier gibt es kein Freitagsgebet mehr", sagt ein junger Mann aus der Nachbarschaft. Der Iman der Moschee war nach Bekanntwerden der Irak-Verbindungen verhaftet und das traditionelle Freitagsgebet untersagt worden.
Als Fremder und noch dazu als Journalist sollte man sich in der Nähe der Moschee nicht lange aufhalten. Die Bewohner von Jamaa Merzouak haben die Popularität satt, die sie den Dschihadisten von Madrid und nun neuerdings auch den Irakreisenden verdanken. Sie fühlen sich von den Medien missbraucht, ausgebeutet und missverstanden.
"Das ist alles reiner Zufall", erklärt Professor Benhayoun. Es gibt keine lokalen Befindlichkeiten, die die Stadt Tetouan oder Marokko zum Zentrum des Terrorismus prädestinieren würden, meint er. Ebenso könnte man Saudi-Arabien zum Terrorzentrum erklären. Der islamistische, radikale Extremismus sei schon lange kein lokales Phänomen mehr, sondern ein globales, das sich über alle Grenzen hinwegsetze. "Diese jungen Leute aus Tetouan, die in den Irak reisten oder in Madrid Bomben in die Züge legten, nehmen an einem internationalen, weltweiten Kampf teil." Der gegenwärtige Terrorismus sei ein neues Phänomen, das von Land zu Land wandern kann, jederzeit und überall hin. "Jetzt kommen die Attentäter aus Tetouan und Marokko. Morgen kann es Frankreich, Großbritannien oder Deutschland sein, London, Paris, Berlin oder München."