Gesundheitspolitik
Nikolaus Nützel will den Medizinbetrieb erklären. Mit mäßigem Erfolg.
Wer meint, Deutschland im Jahr 2007 habe mit knapp 250 zu viele gesetzliche Krankenkassen, der wird beim Blick zurück auf die Anfänge der Sozialversicherung Augen machen. "Die Statistik des Deutschen Reiches listet für das Jahr 1885 die stattliche Zahl von 18.942 Kassen auf", weiß Nikolaus Nützel zu berichten. Mit seinem Buch "Gesundheitspolitik ohne Rezept. Warum Deutschlands Medizinbetrieb so schwer zu kurieren ist" hat sich der Journalist des Bayerischen Rundfunks viel vorgenommen: Er will die Frage klären, "wie unser Gesundheitssystem funktioniert und warum Gesundheitspolitik so läuft wie sie läuft" - und dabei auch noch gut verständlich und unterhaltsam sein.
Nützels erste Antwort lautet: Bismarck hat Schuld. Bereits die vom Reichskanzler im Jahr 1883 angelegte Struktur der deutschen Sozialversicherung habe dazu geführt, dass sich die Zuständigkeiten von Renten-, Unfall- und Krankenversicherung überlappt hätten. Wie Nützel am Beispiel von Reha-Maßnahmen verdeutlicht, tun sie es bis heute.
Das Buch schlägt durchaus einige erhellende Schneisen in den Dschungel des deutschen Gesundheitswesens - ihn auch für Laien wirklich durchschaubar zu machen, vermag es freilich nur in Ansätzen. Es gelingt dann, wenn Nützel seine Thesen mit originellen Beispielen unterfüttern kann, etwa wie Ärzte zum Betrug eingeladen werden. Auch die Erklärung zur "Legende der Kostenexplosion" erfüllt Nützels selbst hoch gesteckten Ziele. Arg psychologisierend ist dagegen die Analyse der "gefühlten Armut" von Ärzten geraten. Und die Illustration der Pharmamacht, zum Beispiel über die Schilderung des Lipobayskandals wirken angegraut.
Probleme bereitet die Unübersichtlichkeit der Kapitelstruktur. Die auf 219 Seiten versammelten 15 Kapitel sind mit zahlreichern Zwischenüberschriften versehen, was den Lesefluss hemmt statt leitet. Nicht ganz einzusehen ist auch die vorgenommene inhaltliche Gewichtung: So beschäftigt sich der Autor in drei Kapiteln mit Ärzten, aber nur in je einem mit der Pharmaindustrie und den Krankenhäusern. Hilfreich wäre ein Glossar zu den zahlreichen Abkürzungen - von DRG über IGeL bis QUALYs - gewesen. Es fehlt genauso wie ein Stichwortverzeichnis oder Schaubilder, die die Zusammenhänge der Akteure im Gesundheitssystem verdeutlicht hätten.
Ein weiteres Manko des Werkes ist sein Erscheinungstermin zeitgleich zum Inkrafttreten der Gesundheitsreform im April. Die Reform heißt bei Nützel etwas irreführend "die 2006er Gesundheitsreform", denn beschlossen wurde sie erst im Jahr 2007. Unklar bleibt, ob sich der Autor bei seinen Beobachtungen auf die parlamentarisch verabschiedete Fassung oder auf eine Vorform bezieht.
Bedauerlicherweise hat sich in diesem Themenkomplex auch ein Fehler eingeschlichen. Die Anhebung der Kassenbeiträge Anfang 2007 schreibt Nützel der Gesundheitsreform zu. Sie steht aber im so genannten Vertragsarztänderungsgesetz, das im vergangenen Jahr verabschiedet wurde und bereits zum Jahreswechsel in Kraft getreten ist.
Den Passagen zur jüngsten Gesundheitsreform hätte es sicher gut getan, wenn das Buch einige Monate später erschienen wäre und der Autor sich in Ruhe das endgültige Gesetz hätte anschauen können. Wahrscheinlich wäre dann eine tiefergehende Analyse des bislang größten Reformprojekt der Großen Koaltion herausgekommen.
Erspart geblieben wären dem Leser dann womöglich auch Nützels Anregungen zur Frage "Wie ginge es denn besser". Diese strotzen vor Allgemeinplätzen ("Von Denkverboten Abschied nehmen" und "Nicht nur an Profite denken"). Dass ein beschlagener Beobachter des Systems wie Nützel nicht auf mehr kommt, zeigt vielleicht am besten, warum sich das Gesundheitssystem so schwer reformieren lässt: Es gibt eben kein einfaches Rezept.
Gesundheitspolitik ohne Rezept.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007;
219 S., 14 ¤