BAHNPRIVATISIERUNG
Viele Experten halten den Referentenentwurf für nicht verfassungskonform
Es gibt immer wieder Artikel und Paragrafen in deutschen Gesetzen, die es zu echter Prominenz bringen. Der Paragraf 218 Strafgesetzbuch zum Beispiel ist so einer - straffreier und unerlaubter Schwangerschaftsabbruch. Artikel 1 Grundgesetz natürlich - die Würde des Menschen. Auch die restlichen Grundrechte kennt jeder. Doch wer hätte gedacht, dass Artikel 87e Grundgesetz es einmal zu annähernd ähnlicher Berühmtheit bringen würde? Die Sätze zur Eisenbahnverkehrsverwaltung sind zwar nicht unwichtig, fristeten bisher allerdings eher ein Dasein im Unbekannten. Mit der seit Monaten vorangetriebenen Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG (DB AG) und dem dazu erarbeiteten und jetzt vorliegenden Referentenentwurf für ein Privatisierungsgesetz ändert sich das schlagartig.
Der in den Sätzen drei und vier des Artikels 87e festgeschriebene Infrastrukturvorbehalt und die (alleinige) Infrastrukturverantwortung des Bundes werden zur Wegscheide für die teilweise Kapitalprivatisierung der DB AG. Denn auch wenn - wie vorgesehen - Private bis zu 49,9 Prozent an der DB AG beteiligt werden, muss der Bund laut Grundgesetz über die Infrastruktur, zu der Schienen ebenso gehören wie Bahnhöfe, Stromversorgung und Signaltechnik, bestimmen und verfügen können. Er müsste ausreichend Einfluss auf die die Schieneninfrastruktur betreffende Unternehmenspolitik haben - um seinem grundgesetzlichen Auftrag gerecht zu werden. Dies ist wiederum nach Maßgabe des aktuell vorliegenden Entwurfs nur über die vom Bund zu bestimmenden Mitglieder des Aufsichtsrates möglich. Da allerdings auch der oder die privaten Teilhaber der Bahn dort vertreten sein würden, dementsprechend Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen - auch im Bereich Infrastruktur (!) - hätten, droht eine Einschränkung des Bundeseinflusses, auch wenn der Bund die Mehrheit der Mitglieder stellen würde. Und das, da waren sich die Verfassungs- und Gesellschaftsrechtler bei einer öffentlichen Anhörung im Verkehrsausschuss am 23. Mai einig, wäre verfassungswidrig.
"Entscheidend ist", so Professor Robert Uerpmann-Wittzack, Verfassungsrechtler an der Universität Regensburg, "dass der Bund durch seine Herrschaft über das Schienennetz die Kontrolle behält." Die geplante Konstellation, nach der der Bund rechtlicher Eigentümer des Schienennetzes bleibt, er der Bahn aber das Netz für einen vertraglich festgelegten Zeitraum zur Bewirtschaftung überlässt - bisher sind 15 Jahre vorgesehen -, wodurch die DB AG zum wirtschaftlichen Eigentümer des Schienennetzes wird, ist für Uerpmann-Wittzack eine "Quadratur des Kreises". Auf der einen Seite öffentlich-rechtliche Infrastrukturverantwortung, auf der anderen Seite betriebswirtschaftlich profitorientiertes Wirtschaften, sind auch für Professor Detlef Kleindiek, Gesellschafts- und Bilanzrechtler der Universität Bielefeld, "zwei Dinge, die sich nicht in Einklang bringen lassen". Für ihn mache es den Eindruck, als werde der Formelkompromiss des Bundestages zur Bahnprivatisierung vom November 2006 (Entschließungsantrag 16/3493 ) gerade von der Rechtsrealität eingeholt.
Diese Realität beurteilt jedoch Professor Hubertus Gersdorf, Verfassungsrechtler der Universität Rostock, anders: Der Referentenentwurf sei sehr wohl "verfassungskonform", schränke er den Einfluss des Bundes im Gegensatz zum Status quo eben nicht ein, so Gersdorf. "Auch derzeit verfügt der Bund über keine direkten Einflussmöglichkeiten auf die Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU). Vielmehr hat er lediglich mittelbare Einflussmöglichkeiten auf die DB AG, die das Stimmrecht in den Hauptversammlungen und Gesellschafterversammlungen ausübt", so Gersdorf. An diesen mittelbaren Einflussmöglichkeiten ändere sich durch den Entwurf des Neuordnungsgesetzes (EBNeuOG) nichts.
Zum gleichen Ergebnis kommt ein von der DB AG in Auftrag gegebenes und von Professor Rupert Scholz, ehemaliger Verteidigungsminister und Staatsrechtler, erarbeitetes Gutachten: "Das neue EBNeuOG erweist sich in jeder Hinsicht als verfassungsgemäß. Es erfüllt alle Voraussetzungen des Artikels 87 Grundgesetz - von der prinzipiellen Privatwirtschaftlichkeit der Eisenbahnunternehmen bis zur Wahrnehmung des Infrastrukturauftrages", heißt es dort knapp.
Ebenso knapp formulieren - neben der Mehrheit der Experten im Verkehrsausschuss - Professor Christoph Möllers, Staatsrechtler der Universität Göttingen, und Professor Carsten Schäfer, Handels- und Gesellschaftrechtler der Universität Mannheim, das Gegenteil. "Der Gesetzentwurf bemüht sich vergebens um die Auflösung des Widerspruchs zwischen den widerstrebenden Zuordnungsregimen des Verfassungsrechts und des Privatrechts", heißt es in dem für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ausgearbeiteten Gutachten. "Weder genügen dem Bund verbleibende Rechte dem Standard der Anteilsmehrheit des Bundes in Artikel 87e Absatz 3, noch lassen sich die EIU zugunsten der DB AG bilanzieren", so die Juristen.
Die diamentral entgegengesetzten juristischen Sichtweisen lassen - auch wenn die Mehrheit der Experten den Entwurf für nicht verfassungskonform hält - muntere Diskussionen für die kommenden Wochen erwarten. Einem kann das nur recht sein: dem Artikel 87e. Der wird auf diesem Weg immer bekannter und bekannter und bekannter . . . Sebastian Hille