ÖKOSYSTEM
Boden
Gesunde Wälder bewahren uns vor Hochwasser und Lawinen. Doch ihre Kraft hat auch Grenzen.
Der Baum liegt schon eine ganze Weile dort. Er ist auch nicht mehr vollständig. Ein kurzer Stumpf ist noch geblieben. Und ein mächtiger Wurzelballen.
Berlin-Tegel, kurz nach neun Uhr morgens, an einem Novembertag. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, doch die Hände werden steif vor Kälte. Der Atem quillt in weißen Wolken aus dem Mund. Förster Christoph Holstein und Jagdhund Findus kümmert das nicht. Sie laufen durch den Wald, über das viele bunte Laub und zeigen Beispiele für die Schutzfunktion des Waldes. Wie etwa den gefällten Baum.
Während Findus, der gerade seine Prüfung zum ausgebildeten Schweißhund bestanden hat, mit der Nase aufgeregt über den Boden fährt - Wildschweine haben in der Nacht Duftspuren hinterlassen - deutet Holstein auf den Stumpf der Buche. Der Ballen ist etwa vier Meter breit und hält noch eine Menge Erde. Darauf wächst schon wieder ein kleiner Baum, am Stumpf breiten sich Pilze aus. "Den haben wir extra liegen lassen, damit die Leute sehen, wie breit die Wurzeln greifen", sagt er.
Berlin hat fast 29.000 Hektar Wald, der von vier Forstämtern verwaltet wird. 100.000 Festmeter Holz schlagen die Angestellten pro Jahr. "Die Stadt ist Europas waldreichste Kommune", berichtet Holstein stolz. Die Berliner lieben ihren Wald. "Am Wochenende boxt hier der Papst im Kettenhemd", so der 49-Jährige lachend über die Besucherströme. Und der Wald schützt. Holstein zeigt auf den Buchenstumpf. Der hat ein großes Loch im Boden hinterlassen, die Erde hängt zwischen seinen Wurzeln. Leicht lässt sich erkennen, wie viel ein einzelner Baum fassen kann. Die Buche ist ein sogenannter Herzwurzler, dehnt sich also in die Breite aus, und stößt nicht, wie etwa die Fichte, mit langen Wurzeln in die Tiefe. Der Wurzelballen, der jetzt so mächtig in die Luft ragt, zeigt, dass Bäume den Boden regelrecht festhalten. Dort, wo viele gesunde Pflanzen wachsen, ist der Boden vor Wind geschützt. Eine Tonne Humusboden beziehungsweise 50 Tonnen Mineralboden durchziehen die Wurzeln eines einzelnen Baumes, sagt die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW). Diese Eigenschaft ist an Schrägen besonders wichtig, erklärt Holstein, als er Findus einen Abhang hinunter folgt. Der Hund hat inzwischen ein moderiges Aststück gefunden und rast damit den Hang hinab. Ein paar Blätter wirbeln auf, doch die Erde bleibt liegen. Wenn ein Herbststurm in diesen Tagen durch den Wald fegt, dann hat er natürlich mehr Kraft als Findus. Durch die Wurzeln kann die Erde aber nicht so leicht verweht werden. Auch für die Menschen, die in der Nähe wohnen, ist das ein Schutz. "Der Wald bremst den Wind, bevor er an die Stadtgrenze kommt", sagt Holstein. Unter anderem deshalb habe der Orkan Kyrill Anfang des Jahres an den Stadträndern Berlins wenig Schaden angerichtet.
Noch etwas verdeutlicht der Forstamtmann an dem großen Buchenstumpf. Er zeigt auf die vielen dünnen Wurzeln, Faserwurzeln genannt. Die saugen Wasser auf, das dann vom Baum gespeichert wird. 30.000 Liter pro Jahr kann ein einzelner Stamm laut SDW durchschnittlich aus dem Boden pumpen, etwa 70.000 Liter Wasser im Jahr werden durch die Wurzeln eines Baumes gehindert abzufließen. Auf diese Weise sammelt sich Regen nicht in großen Massen auf dem Boden und schwemmt Erde weg. Es kann aber auch nicht vollständig in die Tiefe si-ckern. "Der Baum hat normalerweise eine Stauschicht für Wasser", so Holstein. Würde das Wasser ungehindert in den Boden eindringen, würde es sich tief in der Erde als Grundwasser sammeln - und auch da bleiben. Die Bäume geben einen Teil über ihre Blätter wieder an die Umwelt ab. So kann es weiter zirkulieren. "Ein großer Wald ist auch ein Beitrag gegen Wasserknappheit", ist sich Holstein sicher. Bis es freigegeben wird, ist das Wasser zudem um einige Schadstoffe ärmer. Pflanzen absorbieren die Stoffe und reinigen so die Flüssigkeit, bevor sie in Bäche und Flüsse kommt.
Diese Fähigkeiten des Waldes wollen der Förster und seine Kollegen erhalten. Holstein deutet auf die Räume zwischen den Bäumen und einige alte Stämme. "Wir verjüngen den Wald, indem wir ihn so strukturieren, dass immer genug Wasser auf den Boden kommt." Wem das zu stark nach Eingriff in die Natur klingt, dem hält er entgegen, dass die Berliner Wälder von "Naturland" zertifiziert sind, einem der größten Bauernverbände Deutschlands. Die Richtlinien zur Bewirtschaftung seien die strengs-ten, die es gebe.
Während die Förster von Tegel, einem Stadtteil, der wie der Rest Berlins recht flach und ohne reißende Flüsse ist, sich keine Sorgen um extreme Umwelteinflüsse machen müssen, sieht es im hessischen Kreis Groß-Gerau anders aus. Hier am Oberrhein liegt das Naturschutzreservat Kühkopf-Knoblochsaue. Es ist die größte zusammenhängende Auenlandschaft dieser Flussstrecke und hat eine Fläche von 2.400 Hektar, davon 1.300 Hektar Wald, also etwa 1.300 Fußballfelder groß. Es gibt weite Wiesen mit Sumpfgras, Gräben, in denen altes Holz liegen bleiben darf, Bäume, die im Wasser stehen. Das Gebiet ist schon seit 1952 geschützt und trägt mittlerweile das Unesco-Prädikat "Europa-Reservat". Hat der Rhein zu viel Wasser, tritt er über die Flussränder und fließt in den Wald. Das ist so gewollt, schützt das Gebiet doch die dahinter liegenden Wohngebiete vor Hochwasser.
"Der Waldboden speichert mehr Wasser als etwa ein Acker", erläutert Ralph Baumgärtel, der beim Forstamt Groß-Gerau für die Pflege der Rheinauen-Schutzgebiete zuständig ist. Die Flüssigkeit kann leichter in den Boden eindringen, weil die oberen Schichten nicht durch Traktorenreifen verdichtet sind. Trete der Fluss im Sommer über die Ufer, könnten Bäume und andere Pflanzen besonders helfen, weil sie einen Teil des Wassers transpirieren, so Baumgärtel.
Was passiert, wenn ein Fluss nicht genug Überlauffläche hat, war beim Elbehochwasser im August 2002 zu beobachten. Die Bilder von gebrochenen Dämmen, Sandsäckee stapelnden Menschen und von mit brauner Brühe durchzogenen Städten sind noch gut in Erinnerung. Deshalb ist es so wichtig, den Auenwald zu schützen, sagt Baumgärtel. Manchmal könnten Bäume aber auch hinderlich sein. Wenn ein Fluss an einer Stelle durch Bäume zu stark beengt sei, staue sich das Wasser dort. Das müsse verhindert werden.
Im flachen Groß-Gerau hilft der Wald, wenn der Fluss zu viel Wasser trägt. In Bayern sollen die Bäume verhindern, dass Hochwasser überhaupt entsteht. In den bayrischen Bergen hat man schon vor Jahren den Wert des Waldes als Schutz vor Hochwasser, aber auch gegen Lawinen entdeckt. "Bei einem normalen Niederschlag ist ein Bergwald in der Lage, durch Blätter und Wurzeln 90 bis 100 Prozent des Wassers zurückzuhalten", sagt Wolfgang Sailer vom bayerischen Landwirtschaftsministerium. Das Wasser fließe also nicht ins Tal hinunter.
Wenn im Winter Schnee fällt, besteht bei kahlen Hängen zusätzlich die Gefahr, dass sich Lawinen bilden. Mehr als 700 mögliche Strecken sind im Lawinenkataster der bayerischen Alpen erfasst. Ist der Boden bewachsen, vor allem durch starke Bäume, kann der Schnee nicht so leicht ins Rutschen geraten. Wird er durch Baumkronen aufgehalten, lagert sich weniger auf der Erde ab. Außerdem ist der Wind auf freien Flächen stärker als zwischen Baumstämmen, was die Lawinengefahr nochmals reduziert.
Seit 1986 gibt es in Bayern deswegen ein Schutzwaldprogramm, auch um vom Absterben gefährdete Bestände zu sanieren. Bis heute investierte die bayerische Landesregierung rund 60 Millionen Euro in die Initiative. Mit dem Geld wurden etwa 15 Millionen Pflanzen im Wald gesetzt und circa 130 Hektar sogenannter Gleitschnee- und Lawinenverbauungen errichtet, wie Marcus Hildebrandt vom Amt für Landwirtschaft und Forsten in Weilheim berichtet. "Das Waldsterben war Ende der 80er-Jahre durch die ersten Waldschadensberichte in aller Munde", so Hildebrandt. Die Berichte ergaben, dass "der Zustand des Bergwaldes besonders besorgniserregend" war. Beim Start des Programms gab es laut Hildebrandt am Anfang vor allem zwei Probleme: Zum einen das Geld, das nur auf dem Papier als viel erscheint, und zum anderen die generelle Frage, was genau der Bergwald gegen Hochwasser und Lawinen ausrichten kann.
Inzwischen hat sich ergeben: Regnet es in einem kleinen Einzugsgebiet stark, kann ein intakter Bergwald vor Hochwasser schützen. Wichtig sind aber nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Böden: Je durchlässiger sie sind, desto mehr Wasser können sie aufnehmen. So genannter naturnaher Wald, sagt Hildebrandt, also ein Bestand, der dem Ideal des ursprünglichen Waldes möglichst nahe kommt, schützt am besten. Der Boden wiederum wird von den Bäumen beeinflusst. Aber auch der beste Boden ist irgendwann vollgesogen. Die Kraft des Waldes ist eben nicht unbegrenzt.