INTEGRATION
Der jüdische Staat basiert auf Einwanderung. Sie ist aber gleichzeitig die Wurzel ungelöster Konflikte
Nachdem Mose, der Knecht des Herrn, gestorben war, sprach der Herr zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Kindern Israel, gegeben habe: Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hethiter soll euer Gebiet sein." (Josua, 1:1-1:4)
Israel ist auch heute, sechzig Jahre nach der Staatsgründung, eine Gesellschaft, die aktiv die Einwanderung von Juden und die Besiedlung des eigenen Landes fördert. Das Gesetz des "Rückkehrrechts" garantiert jedem Juden die Einwanderung nach Israel. Die israelische Gesellschaft verstand sich lange als Schmelztiegel, in dem Juden aus unterschiedlichen Ländern zu einer neuen, gemeinsamen Identität als Israelis finden sollten. Doch die Realität sieht anders aus: Neben der alten - und früher beherrschenden - säkularen oberen Mittelschicht der Aschkenasim (aus Europa stammende Juden) bilden das national-religiöse Lager, die traditionell orientierten Misrachim (aus islamischen Ländern stammende Juden), die orthodox Religiösen, die neuen russischen Einwanderer, die Äthiopier sowie die Araber jeweils eigene soziale und kulturelle Subsysteme, die auf ethnischen, sozialen und religiösen Merkmalen beruhen, sich unterschiedlich scharf voneinander abgrenzen und miteinander rivalisieren.
Wie ist es dazu gekommen? Der Zionismus war der Versuch, in der Moderne eine neue jüdische Identität zu schaffen. Sie war eine spezifisch jüdische Antwort auf die Herausforderungen der Säkularisierung, des Liberalismus und des Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Der Zionismus beinhaltete humanistische und universalistische Elemente, aber er basierte auf den Symbolen und kulturellen Codes des europäischen Judentums seiner Zeit. Mit der Idee der Rückkehr in das Heilige Land "Zion" versprachen die säkularen Gründerväter des jüdischen Nationalismus nicht nur die kollektive Erlösung von Verfolgung und Unterdrückung in Europa, sondern deuteten religiöse Symbole und biblische Texte neu, nämlich als Realgeschichte, die dem Zionismus Legitimation verschaffen sollte. Von den rund drei Millionen Juden, die zwischen 1881 und 1914 aus Mittel- und Osteuropa auswanderten, wählten zwar nur etwa ein Prozent den Weg nach Palästina. Doch diese jungen, sozialistisch-weltlich orientierten, gut ausgebildeten und ideologisch hoch motivierten Einwanderer schufen die Grundlagen für die Entwicklung eines eigenständigen jüdischen Gemeinwesens (Jischuw) in Palästina. Sie bemühten sich, dem jüdischen Siedlungsprojekt zusätzliche Legitimation zu verleihen, indem sie sich auf biblische religiöse Traditionen beriefen, ihnen aber säkulare Bedeutungen verliehen. Dazu gehörten die Bezugnahme auf biblische Orte und Namen, die Schaffung eines jüdischen Kalenders, und vor allem die (Wieder)Einführung des Hebräischen als Alltagssprache statt Jiddisch, der Sprache der Juden im Exil.
Der Unabhängigkeitskrieg 1948 und die folgende Masseneinwanderung verursachten gravierende demografische, soziale und kulturelle Veränderungen. Vor dem Unabhängigkeitskrieg lebten rund 600.000 Juden und etwa 900.000 Araber auf dem späteren israelischen Staatsgebiet. Während von diesen als Folge von Flucht und Vertreibung über 150.000 zurückblieben, verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung innerhalb von drei Jahren.
Es kamen die Überlebenden des Holocausts aus Europa, aber auch orientalische Juden, deren Lebensbedingungen in ihren arabischen und muslimischen Herkunftsländern durch den arabisch-israelischen Konflikt unhaltbar geworden waren.
Die Geburt des jüdischen Staates war somit auch von massiven inneren Spannungen begleitet. Die verbleibende arabische Bevölkerung wurde lange Zeit als potenzielles Risiko für die innere Sicherheit angesehen und stand in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Staatsgründung unter Militärverwaltung. Zwar wurden den Arabern die Staatsbürgerschaft und formal gleiche staatsbürgerliche Rechte verliehen, doch als ethnisches Kollektiv blieben ihnen gleiche Rechte wie die der jüdischen Staatsbürger im jüdischen Staat verwehrt.
Doch auch die Holocaustüberlebenden aus Europa und die orientalischen Einwanderer wurden von den etablierten Eliten des Jischuw mit Misstrauen betrachtet. Das Schicksal der Überlebenden entsprach nicht dem Ideal und Selbstbild der Veteranen des jüdischen Staates als heroische Kämpfer und Pioniere, da man ihnen unterstellte, sich "wie Lämmer zur Schlachtbank" geführt haben zu lassen. In der israelischen Öffentlichkeit begann man erst im Zuge des Eichmann-Prozesses 1962 in Jerusalem, sich verstärkt mit dem Schicksal der Holocaust-Überlebenden auseinanderzusetzen.
Die Einwanderer aus den arabischen und muslimischen Staaten stellten eine noch größere Herausforderung für die sozialen und ideologischen Grundlagen des Staates dar. Sie kamen aus Ländern, die nicht die Erfahrung der Aufklärung gemacht hatten, und galten den aschkenasischen Eliten als kulturell rückständige "Orientalen", die erst mit den Errungenschaften der Moderne vertraut und einem Prozess der Zivilisierung unterzogen werden müssten. Erwünscht war die Assimilierung der Misrachim an das Ideal einer im Kern europäisch-säkularen Kultur. Die zentralen Institutionen für diesen Zweck waren das Schulsystem und das Militär.
Bis in die 1960er-Jahre gelang es den alten aschkenasischen Eliten, die Deutungshoheit über die ideologischen Grundlagen des Staates zu behalten. Doch mit dem Sechs-Tage-Krieg, vom 5. bis 10. Juni 1967, änderte sich nicht nur die politische Lage im Nahen Osten, sondern es erfolgte auch eine kulturelle und soziale Transformation innerhalb der israelischen Gesellschaft.
Der überwältigende Sieg über die arabischen Nachbarländer Ägypten, Jordanien und Syrien und die Eroberung der Golanhöhen, des Gaza-Streifens und vor allem des Westjordanufers mit seinen biblischen Stätten führten zu einer Stärkung religiöser Gefühle und Deutungen und zu einer Verbindung von Nationalismus und Religion. War für die traditionelle jüdische Theologie bis dahin das Erscheinen des Messias abhängig von der moralisch-religiösen Erneuerung des Volkes Israel, und die Rückkehr nach Zion eine Folge des Erscheinens des Messias, so galt vielen jetzt die umgekehrte Reihenfolge: Die Rückkehr des jüdischen Volkes an seine historischen Stätten im Heiligen Land wurde als Vorbedingung für das Erscheinen des Messias betrachtet.
Das sichtbarste Zeichen dieses Prozesses war die Besiedlung der besetzten Gebiete durch die neue national-religiöse Bewegung des Gusch Emunim (Block der Getreuen). Ihre Ideologie nahm viele Motive des säkularen Zionismus auf, deutete sie aber radikal um im Sinne eines religiösen und ethnischen Nationalismus.
Die Stärkung der "jüdischen" Aspekte der israelischen Nation hatte weit reichende Konsequenzen. Sie schwächte die zivile und staatsbürgerliche Definition der israelischen Nation und die bis dahin zentrale Rolle des Staates als ideologischem Orientierungspunkt.
Der Staat und seine Institutionen wurden nun in den Augen vieler Israelis vom bis dahin wichtigsten Symbol des nationalen Kollektivs lediglich zu einem Instrument der (Um)-Verteilung von Ressourcen.
Der damit verbundene Verlust an Orientierung und Bindekraft führte zur Herausbildung kultureller und sozialer Subsysteme, ohne dass damit ein verbindliches Konzept des Multikulturalismus verbunden wäre.
Die Stärkung der jüdisch-religiösen Deutung der israelischen Nation vergrößert auch die Spannung, die in dem Selbstverständnis Israels als eines jüdischen und demokratischen Staates ohnehin angelegt ist. Eine Spannung, die der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung nicht unbedingt bewusst ist, das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen in einem Staat aber immer wieder erneut vor große Herausforderungen stellt.
Der Autor ist Israelexperte der Bertelsmann-Stiftung.