TagebUch
Walter Kempowski über das Jahr 1991, über Glücksgefühle und Enttäuschungen
Walter Kempowski wurde 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüßte. Nach der Haftentlassung zog er in den Westen, arbeitete lange als Dorfschullehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Im Block" über seine Haft. Die autobiografisch geprägten Romane "Tadellöser und Wolff", "Uns geht's ja noch gold" sowie "Ein Kapitel für sich" machten ihn zu einem "Chronisten des deutschen Bürgertums". Gleichwohl stieß er sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in den großen Feuilletons auf Zurückhaltung, nicht zuletzt wegen seiner Haft in der DDR.
Das änderte sich erst mit dem zehnbändigen "Echolot", einer Collage aus biografischen Zeugnissen über Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs. Während es sich dabei um ein "kollektives Tagebuch" handelt, hat Kempowski bereits dreimal eigene Tagebücher vorgelegt: "Alkor" (1983), "Sirius" (1989) und "Hamit" (1990). Daran knüpft "Somnia" (1991) an.
"Somnia" steht für Träume, die geschildert werden, aber auch für politische Träumereien. Einerseits überkommen ihn 1991 Glücksgefühle angesichts der Wiedervereinigung. Andererseits war er schon 1990 skeptisch, ob die deutsche Einheit gelingen könne. Jetzt ist er sich sicher, dass der Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschland noch in 100 Jahren zu spüren sein werde. Mit Spannung verfolgt er die Hauptstadtdebatte und sieht eine klare Mehrheit für Bonn voraus. "Wenn das stimmt, werde ich Terrorist."
Obgleich er nicht immer richtig liegt, stellt Kempowski erneut sein feines Sensorium für gesellschaftliche und politische Entwicklungen unter Beweis. Die Nachwirkungen der Studentenbewegung hält er für fatal: "Die bürgerlichen Tugenden wurden von den 68ern verhöhnt und abgeschafft. Man muss sich wundern, dass es immer noch so viele ordentliche Leute gibt." Während des Irak-Kriegs empört ihn die einseitige Reaktion der Deutschen: viele kritisieren die Amerikaner - aber über Saddam Hussein vernimmt er kaum ein böses Wort.
Die mangelnde Anerkennung, die der Schriftsteller erfährt, macht ihm zu schaffen. Selbst Besucher seines Hauses haben oftmals "keine Zeile von mir gelesen". An der Universität Oldenburg, wo er zehn Jahre gelehrt hat, wird er "jämmerlich" im Präsidentenzimmer verabschiedet. Die Bibliothek hat nicht einmal seine Bücher. Gerne würde er einmal nach Italien eingeladen werden. "Aber die dortigen Goethe-Menschen sitzen wie Fleischerhunde vor ihren Instituten: ‚Kempowski kommt uns hier nicht rein'."
Seine Isolation in der Jury zur Vergabe des Remarque-Preises kommentiert er sarkastisch: "Man müsste diese Leute einfach mal fragen: ‚Sagen Sie mal, was liegt eigentlich gegen mich vor? Gibt's Akten?'"
Das Lesevergnügen, das sich bei der Lektüre einstellt, ist nicht zuletzt Kempowskis Sinn für Ironie geschuldet. Als einer seiner Gäste in der Bibliothek wissen möchte, ob er die Bücher alle gelesen habe, antwortet er: "Manche zweimal." Aber die Ironie richtet sich auch gegen ihn selbst. Nach dem Einkauf in einem hypermodernen Laden für Bürobedarf prognostiziert er: "Ich denke, diese Firma wird Pleite machen", um in drei Nachträgen hinzuzufügen: "2001: Hat sie bis heute nicht. 2005: Immer noch nicht. 2007: Blüht und gedeiht." Natürlich werden auch die Wehwehchen ausgebreitet: "Gestern Abend hatte ich einen schlimmen Hustenanfall. Ich dachte, ich sterbe!"
"Somnia" ist das letzte Buch, das Kempowski vor seinem Tod im Oktober 2007 fertigstellen konnte. Da er ein begeisterter Tagebuchschreiber war, liegt noch genügend Material vor, das in den folgenden Jahren dem Publikum zugänglich gemacht werden sollte. Darauf dürfen wir uns freuen.
Somnia. Tagebuch 1991.
Knaus Verlag, München 2008; 556 S., 24,95 ¤