Mentalitätswandel
James Sheehan über die Entwicklung Europas zur pazifistischen Zivilgesellschaft
Über 4.000 amerikanische Soldaten sind im Irak-Krieg seit 2003 gefallen. Gut 300 europäische Soldaten kehrten aus dem Krisengebiet nicht mehr in ihre Heimat zurück. Und unter den Irakern verloren etwa eine Millionen Menschen ihr Leben. Ob diese wirklich dem Weltfrieden geopfert werden mussten, ist bis heute höchst umstritten. Unumstritten scheint dagegen, dass trotz massiver Kritik an diesem Einsatz die USA auch weiterhin für Freiheit, Sicherheit und Macht in die Schlacht ziehen werden. Und ihre europäischen Verbündeten werden auch zukünftig nur widerwillig mitziehen, weil sie die Erinnerung an die beiden Weltkriege zur Zurückhaltung mahnen und ihre militärische Entschlusskraft lähmen.
Kontrastiert man das Gewaltpotenzial und die Gewaltbereitschaft der Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den erfolgreichen Friedensbemühungen in der zweiten, wird schnell deutlich, wie radikal sich der "Kontinent der Gewalt" in eine zivile Union freier Staaten verwandelt hat. Wenn nun ein US-Historiker den Europäern die Geschichte ihrer militaristischen Mentalität und ihrer politischen Befriedung in klaren Worten und griffigen Thesen vor Augen führt, könnte man dahinter fast schon eine unterschwellige Kritik an der sicherheitspolitisch passiven Rolle der Europäischen Union vermuten. Doch dieser Verdacht ist relativ unbegründet. Zeigt sich der Vorsitzende des amerikanischen Historikerverbandes in seinem äußerst lesenswerten Buch vielmehr als einfühlsamer und kritischer Chronist des Militarismus in Europa.
Seinen provokanten wie wahren Satz "Der Krieg war tief in den genetischen Code des europäischen Staats eingeschrieben" weiß er nicht nur am massiven Anstieg der Militärbudgets und dem systematischen Aufbau der "reservegestützten Massenarmee" zu illustrieren, sondern auch mit dem identitätsstiftenden und staatstragenden Geist der militärischen Erziehung in Europa zu begründen.
Die Armee war um 1900 zweifellos zur "Schule des Bürgers" geworden, die Wehrpflicht prägte das Staatsbewusstsein, die Soldaten mit ihren Uniformen das Straßenbild und der Krieg war für die Staatsmänner eine selbstverständliche und durch die Rüstung heraufbeschworene Alternative zu diplomatischen Konfliktlösungen geworden. Dass sich der zeitgleich aufkommende Pazifismus gegen den etablierten Militarismus nicht durchsetzen konnte, lag aber auch daran, dass man weithin glaubte, mit modernen Waffen das nationale Prestige erhöhen und im Ernstfall den Krieg rasch für sich entscheiden zu können.
Ein mörderischer Trugschluss, der innerhalb von vier Jahren über neun Millionen Menschen das Leben kostete, weil sich alle Kriegsparteien einredeten, einen gerechten Krieg zu führen. Es hat viel für sich, dass die gewaltige Kriegsmaschinerie den Kombattanten schon bald "ihre eigene eiserne Logik" aufzwang und deswegen bis zum bitteren Ende weitergekämpft wurde. Weniger aus Patriotismus, sondern vielmehr aus Angst, Gewohnheit und Loyalität zu den Kameraden.
Am Ende fraß der Militarismus Millionen seiner Kinder. Die These, dass sich die verrohten und verstörten Kinder nach den schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wirklich an die Gewalt gewöhnten - wie Sheehan behauptet - und damit dem Nationalsozialismus den Boden bereiteten, greift allerdings etwas zu kurz.
Trotz des weitverbreiteten Revanchismus in der deutschen Gesellschaft waren mit konkreten Kriegsdrohungen in der Weimarer Republik keine Mehrheiten zu gewinnen. Adolf Hitler und seine Parteigenossen übten ungeheure Gewalt auf ihre Gegner aus. Sie köderten die Unentschlossenen und Eingeschüchterten aber vor allem mit Wohlfahrtsversprechungen und verbargen aus gutem Grund ihre Kriegsgelüste. Im Herbst 1939 zogen die deutsche Soldaten im Gegensatz zum August 1914 nicht mit wehenden Fahnen, sondern mit gedämpfter Stimmung in den letzten europäischen Krieg.
Der bis heute anhaltende Frieden zwischen den europäischen Nationen beruhte paradoxerweise auf der stabilisierenden bipolaren Ordnung des Kalten Krieges. Aber eben auch auf einem durch leidvolle Erfahrungen eingeläuteten Mentalitätswandel vom Militarismus zum Pazifismus, der dank James Sheehan erstmals konzise beschreiben und erklärt wird. Obgleich er die Mitglieder der EU als zivile Superstaaten lobt, ihnen dafür aber die Rolle als künftige Supermacht abspricht, wird nicht so recht deutlich, wie er sich eine "zivile" Remilitarisierung Europas konkret vorstellt. Dass allein die USA in der Lage und willens sind, die Rolle des Weltpolizisten zu spielen, steht für Sheehan jedoch außer Frage.
Den Europäern gibt der abwägende Historiker jedoch zu bedenken, dass der Frieden oft nicht ohne den Krieg zu haben ist. Und dabei geht es nicht nur darum, den einmal erreichten Wohlstand zu verteidigen, sondern auch um aus der qualvollen Geschichte vernünftige Schlüsse für die zukünftige Sicherheitspolitik zu ziehen.
Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden.
C.H. Beck Verlag, München 2008; 315 S., 24,90 ¤