KINOFILME
Experten fordern eine bessere Archivierung. Der Kulturausschuss macht sich Gedanken über die Umsetzung
Ein malerischer Ort ist es wirklich nicht, das Archiv der Deutschen Kinemathek, dem Museum für Film und Fernsehen, in Berlin. Schlichte silberfarbene Metallregale reihen sich aneinander, darin stapeln sich flache, runde Filmdosen von der Größe eines Pizzatellers mit kleinen Namensschildern an der Seite. Mehrere Exemplare des Kinderfilms "Emil und die Detektive" von 1931 liegen neben "Dr. Mabuse", einem Stummfilm von Fritz Lang von 1922. Darüber einige Dosen mit der Aufschrift "Amphytrion" mit Ausgaben der Filmversion einer Komödie des deutschen Dramatikers Heinrich von Kleist von 1935.
13.000 Filme gehören zum Fundus der Deutschen Kinemathek. Knapp ein Drittel lagert hier, bereit zum Verleih und zur Vorführung. Der Rest ist in anderen Gebäuden untergebracht und teilweise in einem zu fragilen Zustand, um ihn auszuleihen. Hier im Untergeschoss, tief unter dem Potsdamer Platz, ist es ein wenig kühler als im Rest des neunstöckigen Gebäudes mit seiner Glasfassade. Die Temperatur ist streng reguliert, sonst könnten sich die Filmmaterialien zersetzen. Martin Körber geht durch die Regale, zeigt auf die ein oder andere Filmdose. Der Leiter des Filmarchivs ist in seinem Element. "Das Klima ist ein ganz entscheidender Faktor, je kühler, desto besser", sagt er. Ein Farbfilm etwa lagere am besten unter null Grad Celsius. "Bloß nicht auf dem Dachboden oder im Heizungskeller lagern, wie wir es bei einigen Produzenten schon gesehen haben."
Es sind Orte wie die Deutsche Kinemathek, die seit einiger Zeit auch die Bundespolitik beschäftigen. Am 18. Juni veranstaltete der Ausschuss für Kultur und Medien erstmals eine Anhörung zum Thema "Filmerbe". Grundlage war ein Antrag der Fraktionen von Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen (16/8504). Darin fordern die Abgeordneten genau das, was Körber und seine Kollegen sich wünschen: Eine nationale Filmografie und die Schließung der Lücken bei der bisherigen Archivierung. Nur ein Viertel der Stummfilme aus deutscher Produktion und etwas mehr als die Hälfte der frühen Tonspielfilme seien überliefert, beklagen sie. Bedroht sei auch der Bestand der vergangenen Jahrzehnte. In den 90er-Jahren seien weniger als die Hälfte der Spielfilme archiviert worden. Zwar gebe es seit 2004 die Pflicht, eine Kopie von Filmen, die mit staatlichen Mitteln gefördert wurden, an ein Bundes- oder Landesarchiv abzugeben. Doch diese Pflichtabgabe sei nicht ausreichend. Die Aufteilung auf die vielen Standorte erschwere den Überblick, monieren auch Fachleute. Außerdem seien die Lagerstandards unterschiedlich, und die abgegebenen Materialien hätten nicht immer die gleiche Qualität.
Diese Ansicht bestätigten die fünf geladenen Experten. "Die Filme sind ein Zeitspiegel. Sie nicht aufzubewahren, wäre kulturelle Ignoranz", so Professor Jürgen Haase, Geschäftsführer des Progress Film-Verleihs. Er sprach sich dafür aus, alle Filme zu sichern, "die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden". Rainer Rother, künstlerischer Direktor der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin, warb dafür, die Filmwirtschaft zu verpflichten, ein Exemplar jedes Kinofilms an ein Archiv abgeben zu müssen, nicht nur staatlich geförderte Werke. "Das ist in Wahrheit eine Versicherung von ziemlich großer Haltbarkeit", so Rother über die Maßnahme, die für die Produzenten mit enormen zusätzlichen Kosten verbunden wäre. Denn nicht jedes Material ist zur Archivierung geeignet. "Die digitale Aufbewahrung ist unsicher, das garantiert uns nicht, dass die Filme in 50 Jahren oder mehr noch erhalten sind", sagte Martin Moszkovicz, Vorstandsmitglied der Allianz Deutscher Produzenten Film & Fernsehen. Bis auf Weiteres sei daher eine analoge Speicherung notwendig. Aus seiner Sicht würde es ausreichen, wenn die Produzenten eine Kopie des Films einreichen.
Dem widersprach Karl Griep, Leiter der Filmabteilung beim Bundesarchiv. Am sinnvollsten seien die Originalnegative, am besten auf Polyesterfilm, denn dieses Material halte 700 oder auch 1.000 Jahre. Das investierte Geld komme der Filmwirtschaft zugute, denn die Archive sorgten dafür, dass Filme aufbewahrt und nutzbar gehalten würden. Griep sprach sich dafür aus, die Archivmaterial mit staatlichen Mitteln zu unterstützen, denn "der Staat sollte sein eigenes Erbe zu großen Teilen mitfinanzieren". Auch er bewertete die digitale Speicherung zum gegenwärtigen Zeitpunkt als unsicher - und zu teuer. "Eine digitale Sicherung ist zehnmal teurer als eine analoge. Außerdem wechseln alle fünf bis zehn Jahre die Formate und damit die Technik. Das gebiert die Gefahr von Datenverlust", meinte Griep.
In seiner schriftlichen Stellungnahme beziffert Griep allein die Summe auf 3,2 Millionen Euro pro Jahr, die "für den Nachweis und das Sichern des deutschen Filmerbes in Auswahlarchivierung" anfallen würde. Darin einbezogen wären alle Spiel- und Dokumentarfilme, die Hälfte der Kurzfilme und ein Fünftel der Werbefilme, insgesamt bis zu 5.000 Filme pro Jahr, die im Kino gezeigt wurden. Kosten für Personal, Lagerung und Datenbank schätzt er auf 935.000 Euro. Um die Filme flächendeckend mit öffentlichen Mitteln nutzbar zu machen, also verleihen und vorführen zu können, müsste der Bund nach Grieps Schätzungen 16 Millionen Euro pro Jahr investieren. Denkbar wäre, nur 65 Prozent der Jahresproduktion aufzuarbeiten und die Kosten zwischen Staat und Filmindustrie aufzuteilen. Dann müssten beide Seiten schätzungsweise jeweils gut 5 Millionen Euro investieren.
Die SPD-Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner sah vor allem die Frage, wie Bürger von dem Archivmaterial profitieren können, als wichtig an. Dieser Aspekt sei bisher zu kurz gekommen. Auch müsse ein Kriterienkatalog erarbeitet werden, nach denen Filme zur Aufbewahrung ausgesucht werden. Ebenso sei noch nicht geklärt, welches Material genutzt werden solle. "Aufwendig wird es sein, den alten Bestand zu sichern", meinte Krüger-Leißner. "Das wird richtig Geld kosten." Sie geht von 700 historischen Filmen aus, die bearbeitet werden müssen. Die Grünen-Fraktionschefin Claudia Roth forderte eine schnelle Unterzeichnung der Europaratskonvention für den Schutz des visuellen Erbes. Nach ihrer Ansicht ist eine Pflichtabgabe notwendig, "um einen breiten Schutz zu gewährleisten". Gleichzeitig müsse eine "Recherchestrategie" entwickelt werden, um als verschollen geltene Filme wiederzufinden. Außerdem müssten Nutzer leichter an Archivmaterial gelangen können. Günter Krings (CDU) betonte, dass trotz zentraler Archivierung die Urheberrechte gewahrt bleiben müssten. "Wenn wir den Schutz geistigen Eigentums ernst nehmen, dann darf die zentrale Archivierung nicht mit einer zwingenden Veröffentlichung durch das Archiv zusammenfallen. Auf die Verwertung auch alter Filme muss der Rechteinhaber seinen Zugriff behalten", so Krings. Claudia Winterstein, filmpolitische Sprecherin der FDP, sprach sich für eine Pflichtabgabe von Filmkopien aus. "Wir fordern jetzt konkrete Vorschläge von der Regierung, wie diese Archivierungspflicht organisatorisch und finanziell umgesetzt werden kann. Auch brauchen wir pragmatische Regelungen, wie archivierte Filme für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können", so Winterstein.
Eine Pflichtabgabe und mehr Geld für Restaurierung und Nutzung wären auch in Martin Körbers Sinne. Auf einer Kommode in seinem Büro steht ein großes Schwarzweißfoto, eine Aufnahme von den Dreharbeiten zu "Scarlett Empress", einem Film von 1934 mit Marlene Dietrich. Entspannt sitzt er hinter seinem Schreibtisch und zählt Beispiele auf, mit denen er seine These, alle, aber auch wirklich alle in Deutschland ausgestrahlten Kinofilme müssten gesammelt werden, untermauert. Zum Beispiel Casablanca, der berühmte Film mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman in den Hauptrollen. Zehn Jahre nach seiner Uraufführung kam er in die deutschen Kinos. Doch die Fassung von 1952 hatte mit dem Original wenig zu tun. Während ursprünglich starke Bezüge zum nationalsozialistischen Deutschland und zum französischen Vichy-Regime vorhanden waren, sahen die Kinobesucher in der Bundesrepublik keine Nazis. Eine der Hauptfiguren war nicht mehr der tschechische Widerstandskämpfer Victor László, sondern Victor Larsen, ein norwegischer Atomphysiker. Erst 1975 wurde eine neu synchronisierte Fassung des Thrillers im Fernsehen gezeigt. "In vielen Fällen bildet sich das Interesse an den Filmen erst hinterher", sagt Körber. "Im Falle von Casablanca sind die Veränderungen an der Geschichte kulturhistorisch interessant, deswegen kann die absolut verhunzte deutsche Fassung interessanter sein als das amerikanische Original." Er stellt sich eine umfassende Sammlung an einem zentralen Ort vor, in den Interessierte wie in eine Bücherei gehen und sich dort aus einer Fülle von Material ein Bild von vergangenen Zeiten machen können. "Ich kann mir jetzt in der Staatsbibliothek in Berlin komplette Zeitungen aus dem Jahr 1908 geben lassen. Dadurch, dass keiner ausgewählt hat, welche Artikel es wert sind, aufgehoben zu werden, habe ich ein vielfältigeres Bild von dem Leben zu der Zeit", so Körbers Vergleich.
Nach Aussagen der Fraktionen soll das Problem bei der Novellierung des Bundesarchivgesetzes im Herbst geregelt werden. Die Linksfraktion meldete Zweifel an. Die anderen Fraktionen planten, den Staat nicht mit zusätzlichen Kosten zu belasten. Die Anhörung habe aber ergeben, dass enorme Summen zur Restaurierung und Archivierung notwendig seien. Dieses Problem müsse gelöst werden.