Blick in den Plenarsaal ©
DBT
Das Grundgesetz sieht zwei Möglichkeiten einer Auflösung
des Bundestages vor - nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und nach Art.
68 Abs. 1 Satz 1 GG. In beiden Fällen liegt die Entscheidung,
den Bundestag aufzulösen, beim Bundespräsidenten. Es gibt
also weder eine automatische Auflösung noch ein
Selbstauflösungsrecht des Parlaments; dieses hat es jedoch in
der Hand, eine Auflösung zu verhindern, indem es mit der
Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Kanzler wählt (vgl.
Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG). Nach erfolgter Auflösung
müssen "innerhalb von sechzig Tagen" (Art. 39 Abs. 1 Satz 4
GG) Neuwahlen stattfinden. Der "aufgelöste" Bundestag bleibt
bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages bestehen, wie sich aus
Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt; es gibt also keine parlamentslose
Zeit.
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG "kann der Bundespräsident auf
Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den
Bundestag auflösen", wenn "ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm
das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der
Mitglieder des Bundestages" findet. Darüber hinaus
enthält Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts jedoch noch ein ungeschriebenes
sachliches Tatbestandsmerkmal: "Die politischen
Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine [d.h.
des Bundeskanzlers] Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen
oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit
getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag." Alle drei am
Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG beteiligten
Verfassungsorgane - Bundeskanzler, Bundestag und
Bundespräsident - seien an dieses materielle Erfordernis
gebunden. Unter diesem Gesichtspunkt habe der Bundespräsident
zunächst zu prüfen, ob insbesondere das Vorgehen des
Bundeskanzlers verfassungsmäßig war, wobei er dessen
weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu
respektieren habe. Unabhängig davon habe "der
Bundespräsident, nachdem er die
Verfassungsmäßigkeit der vorangehenden Akte von
Bundeskanzler und Bundestag bejaht hat, im Rahmen seines Ermessens
die Lage selbständig und insoweit ohne Bindung an die
Einschätzungen und Beurteilungen des Bundeskanzlers ... zu
beurteilen ...." Nicht ausreichend für die Bejahung einer die
Auflösung des Bundestages rechtfertigenden "politische[n] Lage
der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag" sei
insbesondere der Umstand, "dass alle im Bundestag vertretenen
politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu
Neuwahlen einig sind", wenngleich dem eine gewisse Indizwirkung
beigemessen werden könne.
Das Vorliegen einer solchen materiellen Auflösungslage - wie
auch der in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ausdrücklich normierten
Erfordernisse - kann vom Bundesverfassungsgericht im Wege des
Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13
Nr. 5, 63 ff. BVerfGG nachgeprüft werden, wobei das
Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass "die
verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten
[bei Art. 68 GG] weiter zurückgenommen [sind] als in den
Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug." So prüfte - und
bejahte - es im Jahre 1983 auf eine Klage von Abgeordneten die
Verfassungsmäßigkeit der von Bundespräsident
Carstens verfügten Auflösung des Bundestages.
Vorangegangen war der Sturz von Bundeskanzler Schmidt durch die
Neuwahl von Bundeskanzler Kohl nach Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG und
ein negativ beschiedener Antrag von Bundeskanzler Kohl, ihm das
Vertrauen auszusprechen. Im Jahre 1972 hatte es bereits einen Fall
der Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG gegeben, nachdem
eine Vertrauensfrage von Bundeskanzler Brandt gescheitert
war.
Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG betrifft die Situation, dass im Falle der
Wahl eines neuen Kanzlers - der nicht nur beim Zusammentritt eines
neuen Bundestages, sondern auch bei einem Rücktritt des
Kanzlers eintreten kann -, die Mehrheit der Mitlglieder des
Bundestages nicht dem Wahlvorschlag des Bundespräsidenten
gefolgt ist, innerhalb von 14 Tagen einen anderen Bundeskanzler
nicht gewählt hat und in einem daraufhin stattfindenden
Wahlgang der Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der
Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt hat. Dann "hat der
Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen
oder den Bundestag aufzulösen" (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG). Die
Möglichkeit der Auflösung nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG
besteht nach herrschender Meinung darüber hinaus auch dann,
wenn im Falle von Stimmengleichheit oder Nichtannahme der Wahl ein
erneuter Wahlgang scheitert oder jeglicher Wahlgang unterbleibt.
Auch im Falle des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG muss - ähnlich wie
bei Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG - eine materielle Auflösungslage
vorliegen, damit der Bundespräsident sich für die
Variante "Auflösung" entscheiden kann.
Die in Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG für den Fall der
Auflösung des Bundestages angeordnete Durchführung von
Neuwahlen "innerhalb von sechzig Tagen" wirft Probleme im Hinblick
auf die im Bundeswahlgesetz für die Wahlvorbereitung
vorgesehenen Fristen (vgl. §§ 16 ff. BWahlG) auf; diese
können bei einer Sechzig-Tage-Frist nicht eingehalten werden.
Aus diesem Grunde ermächtigt § 52 Abs. 3 BWahlG das
Bundesministerium des Innern dazu, "im Falle einer Auflösung
des Deutschen Bundestages die in dem Bundeswahlgesetz und in der
Bundeswahlordnung bestimmten Fristen und Termine durch
Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates abzukürzen."
Auf diese Weise könnten z.B. Fristen, wie sie bei der Neuwahl
vom 6. März 1983 praktiziert wurden, festgesetzt werden.
Quellen:
- BVerfGE 62, 1 ff. (Bundestagsauflösung 1982).
- von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2
(Art. 20 bis Art. 69), 4./5. Auflage, München 2001, Art. 39
(Versteyl), Art. 63 (Meyn), Art. 68 (Mager).
- Schindler, Peter, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen
Bundestages 1949 bis 1999, Gesamtausgabe in drei Bänden, Band
I: Kapitel 1-6, Baden-Baden 1999, S. 61 ff. (Terminplan der Neuwahl
vom 6. März 1983).
- Schreiber, Wolfang, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen
Bundestag, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 7. Auflage, Köln
u.a. 2002, § 52 Rn. 5 (zum Fristproblem bei Neuwahlen nach
Auflösung).
Verfasser: RR z.A. Dr. Frank Raue, Fachbereich III (Verfassung und
Verwaltung)