Fahnen der EU-Mitgliedsländer
vor dem Eingang des EU-Ratsgebäudes © dpa
Einleitung
Frankreich und die Niederlande haben sich mit einem klaren Nein in
Volksabstimmungen gegen den Vertrag über eine Verfassung
für Europa (Verfassungsvertrag) ausgesprochen. Die
Konsequenzen für Europa sind bislang noch nicht abzusehen.
Fest steht lediglich, dass der Verfassungsvertrag nur in Kraft
treten kann, wenn er von sämtlichen 25 Mitgliedstaaten nach
den jeweils dafür vorgesehenen nationalen Verfahren
ratifiziert wird. Bislang haben 10 Staaten, darunter Deutschland,
das Vertragswerk ratifiziert. Die Staats- und Regierungschefs
wollen auf dem
Europäischen Rat am 16./17. Juni 2005
in Brüssel über das weitere Vorgehen beraten.
Verschiedene Szenarien sind dabei denkbar.
Der Ratifizierungsprozess wird fortgeführt
Der luxemburgische Ratspräsident Juncker,
EU-Kommissionspräsident Barroso und Parlamentspräsident
Borrell fordern die Fortsetzung des Ratifizierungsverfahrens in
sämtlichen EU-Staaten. Ähnlich haben sich auch mehrere
Staats- und Regierungschefs geäußert. Erst Ende 2006,
nach Abschluss des Verfahrens, könne man entscheiden, wie
weiter verfahren werden solle. Diese Position stützt sich auf
eine Erklärung der Staats- und Regierungschefs der EU, die dem
Ende Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Verfassungsvertrag
beigefügt ist. Diese Erklärung sieht vor, dass, falls
zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages - also
Ende Oktober 2006 - mindestens 20 von 25 EU-Mitgliedstaaten (vier
Fünftel) ratifiziert haben und in einem oder mehreren
Mitgliedstaaten "Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten
sind", sich der Europäische Rat erneut mit dem Stand des
Ratifizierungsprozesses befasst (
sog.
Rendez-vous-Klausel).
Diese Position berücksichtigt allerdings nicht den
möglichen Fall, dass Ende 2006 weniger als 20 Mitgliedstaaten
den Verfassungsvertrag ratifiziert haben werden.
Die Ratifizierung wird ausgesetzt
Als erster Mitgliedstaat hat das Vereinigte Königreich
angekündigt, sein Ratifizierungsverfahren vorläufig
auszusetzen. Polen und Tschechien erwägen ebenfalls eine
solche "Denkpause". Umstritten ist, ob die Mitgliedstaaten zur
Fortführung des Ratifizierungsverfahrens verpflichtet sind.
Aus der bereits erwähnten "Rendez-vous-Klausel" lässt
sich keine rechtliche Verpflichtung herleiten, den
Verfassungsvertrag bis Oktober 2006 dem innerstaatlichen
Ratifizierungsverfahren unterworfen haben zu müssen. Solche
Erklärungen begründen nach überwiegender Auffassung
lediglich eine politische Bindung.
Eine
Pflicht zur Ratifizierung könnte aus
Artikel 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der
Verträge (WVK) erwachsen. Dieser verpflichtet Staaten, die
einen völkerrechtlichen Vertrag - ein solcher ist der
Verfassungsvertrag - unter dem Vorbehalt der Ratifikation
unterzeichnet haben, "sich aller Handlungen zu enthalten, die Ziel
und Zweck eines Vertrags vereiteln würden".
Artikel 18 WVRK ließe sich allerdings auch politisch dahin
gehend auslegen, dass ein Festhalten an dem Ratifizierungsprozess
ohne Berücksichtigung der aktuellen Stimmungslage in Europa
den Verfassungsvertrag erst recht vereiteln würde.
"Opting-out-Klauseln" oder interpretierende
Erklärungen
Theoretisch denkbar wären interpretierende
Zusatzerklärungen oder "Opting-out-Klauseln" zum
Verfassungsvertrag, die Vorbehalten Rechnung trügen, damit die
Bürger in einer zweiten Abstimmung doch noch zustimmen. Ein
solcher zweiter Anlauf wäre keine Premiere. So stimmten die
Iren dem Vertrag von Nizza 2001 erst in der zweiten Runde zu,
nachdem der Europäische Rat klar gestellt hatte, dass Irlands
Neutralität nicht in Frage gestellt werde. Auch die Dänen
stimmten 1992 in einem Referendum zum Vertrag von Maastricht
zunächst mehrheitlich gegen den Vertrag. Mit der Herausnahme
bestimmter Bereiche (Euro und Verteidigungsfragen) konnte die
Zustimmung in einer zweiten Abstimmung gesichert werden. Ein
solches Vorgehen erscheint bei dem sorgfältig austarierten
Kompromiss des Verfassungsvertrags bislang nicht denkbar und ist
auch nicht in Aussicht gestellt worden.
Die "Nizza-Plus-Lösung" oder der "Plan B"
Ein solcher Ansatz bestünde darin, einzelne in der Verfassung
vorgesehene Reformen herauszulösen, soweit für diese
keine Änderung des Vertrages von Nizza und damit kein
Ratifizierungsprozess nötig wäre. Es könnte erwogen
werden, eine Abstimmung nach dem Modell der doppelten Mehrheit, die
Idee eines europäischen Außenministers oder eines
Europäischen Auswärtigen Dienstes zumindest ansatzweise
durch Beschlüsse des Rates, interinstitutionelle
Vereinbarungen oder Zusatzprotokolle umzusetzen. Der Vertrag von
Nizza sieht zudem die Möglichkeit einer
"
verstärkten Zusammenarbeit" vor: Mindestens
acht EUMitgliedstaaten könnten so gemeinsam als eine Art
politische Avantgarde ein Projekt vorantreiben, etwa bei der
Sozial- und Steuerpolitik. Das Vorziehen einzelner Politikfelder
wird bislang jedoch nicht ernsthaft diskutiert, bedeutete es wohl
das Ende des Gesamtprojektes Verfassungsvertrag.
Zweiteilung des Verfassungsvertrages
Der Verfassungsvertrag ist in vier Teile gegliedert: Teil I
beinhaltet grundlegende Verfassungsbestimmungen, d.h. er definiert
die Ziele, Zuständigkeiten, Entscheidungsverfahren und Organe
der Union. Teil II integriert die Charta der Grundrechte, welche
vom Europäischen Rat in Nizza 2000 verkündet wurde. In
Teil III werden Politikbereiche und Arbeitsweise der Union
präzisiert. Der letzte Teil enthält die allgemeinen und
die Schlussbestimmungen.
Eine bislang wenig erörterte Möglichkeit könnte
darin bestehen, den Verfassungsvertrag in einen
gekürzten Verfassungstext und einen
operativen Ausführungsvertrag aufzuteilen. Dieser bereits im
Verfassungskonvent aufgeworfene Vorschlag könnte Vorbehalte
gegen Teil III des Verfassungsvertrages auffangen. Kritisiert
wurden hauptsächlich dessen "Sperrigkeit", aber auch die
verfassungsrechtliche Präjudizierung umstrittener
Politikbereiche wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die
Außen- und Sicherheitspolitik. Der Verfassungsteil
müsste dann erneut zur Abstimmung gestellt und europaweit
ratifiziert werden.
Quellen:
- Vertrag über eine Verfassung für Europa in der am 29.
Oktober 2004 in Rom unterzeichneten und am 16. Dezember 2004 im
Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C Nr. 310)
veröffentlichten Fassung.
- Vertrag über die Europäische Union (EUV) vom 7.
Februar 1992 in der Fassung vom 16. April 2003 - Vertrag von Nizza
(BGBl. 2002 II S.1666).
- Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
(WVK) vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927).
Verfasser: ORR Jan Muck Schlichting, Fachbereich XII