Es gilt das gesprochene
Wort
Einleitung
Auch dieser Bericht ist ein kritischer Bericht; er ist wie zuvor
auch ein Bericht über Mängel. Das kann auch gar nicht
anders sein; nach dem Wehrbeauftragtengesetz wird der
Wehrbeauftragte tätig, wenn ihm "Umstände bekannt werden,
die auf eine Verletzung der Grundrechte der Soldaten oder der
Grundsätze der Inneren Führung schließen lassen".
Das ist eindeutig: Der Wehrbeauftragte hat sich um Schwächen
zu kümmern. In der Beschaffenheit des Berichts muss sich das
widerspiegeln; es entspricht dem gesetzlichen Ansatz und
hoffentlich auch den Erwartungen des Parlaments - meines
Auftragsgebers.
Der jährliche Bericht des Wehrbeauftragten kann nicht den
Anspruch darauf erheben, den Zustand der Bundeswehr abzubilden, wie
er tatsächlich ist. Aber er soll mehr sein als die
Aneinanderreihung von Sorgenketten von Soldatinnen und Soldaten,
die nichts mit dem Ganzen, also der Bundeswehr insgesamt, zu tun
hätten. Das Gegenteil ist richtig. Der Bericht soll bei der
parlamentarischen Kontrolle helfen und Aufschluss darüber
geben, wie Bundeswehr eben auch ist.
Der Bericht stützt sich besonders auf Eingaben aus der Truppe,
aber auch auf Wahrnehmungen bei direkten Begegnungen mit Soldaten
wie auch auf andere Hinweise.
* * *
Mit dem Thema Personalangelegenheiten, mit dem Thema Bundeswehr im
Einsatz, mit dem Thema Infrastruktur, mit dem Thema Misshandlungen,
mit dem Thema Vertrauenspersonen haben sich fünf
Schwerpunktthemen für das Jahr 2004 herausgeschält.
Stichwort
Personalangelegenheiten
Dieser große Komplex macht wie zuvor auch ein Drittel der
Eingaben aus; er ist übrigens auch der Schwerpunkt bei
Gesprächen mit Soldaten. Da geht es um Unterschiedliches. Ich
nenne das Beförderungswesen und Beförderungsstrategien,
Weiterverpflichtungsmöglichkeiten, Versetzungen,
Laufbahnwechsel, Unzulänglichkeiten bei der
Antragsbearbeitung, Berufsförderungsdienst, Zivile Aus- und
Weiterbildung (ZAW), Stellenbesetzungshoheit und
Personalrekrutierung aus der Truppe heraus.
Zu Personalangelegenheiten zählt auch die Arbeit der Zentren
für Nachwuchsgewinnung. Sie wird von der Truppe scharf
kritisiert. Zu starke Berücksichtigung theoretischer
Ansätze bei der Personalauswahl, das Wecken unrealistischer
Vorstellungen im Hinblick auf den Truppenalltag, eine zu starke
Betonung ziviler Erfahrungen sind die Hauptkritikpunkte.
Zu Personalangelegenheiten gehören auch Auswirkungen des
Attraktivitätsprogramms.
Mit dem Attraktivitätsprogramm werden die älteren
Feldwebel immer noch nicht fertig. Mit ihrer großen
militärischen Erfahrung und ihren Qualitäten in der
Menschenführung müssen sie immer wieder erleben, dass
weitaus Jüngere, die sie teilweise selbst ausgebildet haben,
an ihnen vorbeiziehen. Was auf den Schulterklappen zu sehen ist
oder vermisst wird, wirkt schwer.
Stichwort
Bundeswehr im Einsatz
Zur Vorbereitung auf den Einsatz sollte grundsätzlich die
Ausbildung im Inland stattfinden und abgeschlossen sein. Das ist
nicht immer der Fall gewesen, wie Soldaten berichtet haben.
Beispiele: Engpässe bei der Ausbildung an geschützten
Transportfahrzeugen, unzureichende Funkausbildung für
Einsätze bei KFOR und in Kunduz, eine unzureichende Einweisung
an medizinischen Geräten für einen Rettungssanitäter
bei KFOR.
Solide Fremdsprachenkenntnisse werden gerade bei integrierter
Verwendung im Einsatz immer wichtiger. Das muss durch ein
entsprechendes Lehrangebot auch verbessert werden.
Bundeswehr im Einsatz muss entsprechend ausgestattet sein. Auch
insoweit gab es Mängel. Es fehlten Funkgeräte bei
Patrouille außerhalb eines afghanischen Feldlagers. Es
fehlten teilweise Kampfrucksäcke in Tarndruck, Kampfschuhe in
Tropenausstattung, Bergschuhe. Der Zulauf von Ersatzteilen für
Geräte erfolgte vielfach nicht rasch genug.
Der Sinn von Einsätzen muss aus der Sicht von Soldaten
erkennbar sein und erklärt werden können. Trotz geringer
politischer Fortschritte kann Einsatz auf dem Balkan auch aus der
Sicht von Soldaten Sinn machen, weil damit Massenflucht nach Westen
eingedämmt werden kann. Hingegen kann der Einsatz in
Afghanistan Zweifel am Sinn befördern, zumal die
Bekämpfung des Drogenanbaus und des Drogenhandels - aus guten
Gründen - unterbleiben muss.
Die Fähigkeit zu weiteren Einsätzen wird in der
Bundeswehr unterschiedlich beurteilt. Die militärische
Führung hält dies überwiegend für möglich.
Soldaten unterhalb der Leitungsebene sehen dies weit
zurückhaltender. Zu den Skeptikern zählen namentlich die
Fernmelder, die Pioniere, Sanitätspersonal, die Logistiker,
namentlich auf dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen.
Stichwort
Infrastruktur
Die ostdeutschen Kasernen sind durchweg in gutem Zustand; das
Erneuerungsprogramm "Kaserne 2000" hatte wohl vollen Erfolg. Das
gilt nicht für Kasernen in Westdeutschland. Im Wesentlichen
wurden folgende Mängel festgestellt: Schimmelbefall, marode
Installationen (vor allem Rohrleitungen),
erneuerungsbedürftige Sanitärräume,
Überbelegung; aber auch verschlissene Matratzen und
abgenutztes sonstiges Mobiliar, aber auch beschädigte
Fensterrahmen müssen berichtet werden. Die Mängel sind
größtenteils schon seit Jahren bekannt. Die Soldaten
können mit Recht erwarten, dass sie endlich abgestellt werden,
zumal nachdem die Standortentscheidungen gefallen sind und damit
Planungssicherheit für den Einsatz von Finanzmitteln
geschaffen worden ist.
Stichwort
Misshandlungen
Vorkommnisse bei der Grundausbildung eines Bataillons in Coesfeld
haben ein großes öffentliches Echo ausgelöst. Meine
Mitarbeiter haben dazu die seinerzeit im Amt befindlichen
Vertrauenspersonen und deren Stellvertreter angehört. Danach
hat kein betroffener Rekrut sich in dieser Angelegenheit an sie
gewandt. Die Vertrauenspersonen selbst haben sich auch nicht
darüber beschwert; sie hielten das betreffende
Ausbildungsmodul für rechtmäßig, auch weil der
Kompaniechef zumindest teilweise anwesend war. Sie bemängelten
allerdings, dass sie unzureichend in ihre Aufgabe als
Vertrauenspersonen eingewiesen worden waren.
Zusätzlich hat ein Verfahrensbevollmächtigter für
mehrere Soldaten das Recht auf ein faires Verfahren und ein Soldat
persönlich Schutz vor Vorverurteilungen in einer
persönlichen Vorsprache bei mir geltend gemacht.
Als Reaktion auf Coesfeld sind bei der Dienststelle bis zum
Jahresende 43 Eingaben eingegangen; danach sind zwei hinzugekommen.
Sie sind unterschiedlicher Beschaffenheit; teils sind es
Schilderungen von Ereignissen, die schon mehr als fünf Jahre
oder gar Jahrzehnte zurückliegen (22), drei haben
Begebenheiten aus den letzten zwei Jahren zum Gegenstand,
zwölf sind zeitlich nicht bzw. noch nicht einzuordnen,
wiederum andere beschränkten sich auf Bewertungen und
Meinungsäußerungen. Mit allen Vorgängen ist das
Bundesministerium der Verteidigung befasst worden. Es gibt keinen
Anhaltspunkt dafür, dass das BMVg die Sachverhalte nicht nach
rechtsstaatlichen Maßstäben aufarbeitet.
Beim Wehrbeauftragten sind im Berichtsjahr 94 (= 69+25) Fälle
von Misshandlungen mitgeteilt worden; im Vorjahr waren es 58 (=
35+23). Die Zahl der einschlägigen Eingaben ist gegenüber
dem Vorjahr fast unverändert - 2003: 23 / 2004: 25. Bei den
besonderen Vorkommnissen (BV), die das Bundesministerium der
Verteidigung von Amts wegen mitteilt, sind die Zahlen
gegenüber dem Vorjahr gestiegen (35 aufgegriffene BVs in 2003,
69 aufgegriffene BVs in 2004). Die einschlägigen Vorfälle
gliedern sich wie folgt auf:
- Kameradenmisshandlung, also Ausübung von
Gewalt ohne formelles Vorgesetztenverhältnis
- Ein Beispiel für
Kameradenmisshandlung:
das so genannte "Nierenspiel". Dabei schlugen sich die Kontrahenten
- teilweise unter Alkoholeinfluß - abwechselnd in die Nieren
- bis zur Aufgabe des einen, der einen Milzriß erlitt und dem
in anschließender Notoperation das Organ entfernt werden
mußte. Die zuständige Staatsanwaltschaft wurde
eingeschaltet.
- Untergebenenmisshandlung
- Ein Beispiel für
Untergebenenmisshandlung:
ein Offizier schlug Soldaten mit einem Kabelende auf mehrere
Körperpartien, nahm einen anderen Soldaten in den
Schwitzkasten und trat einem weiteren in das Gesäß. (Der
Offizier erhielt ein Beförderungsverbot und eine Kürzung
der Dienstbezüge.)
- Vorgesetztenmisshandlung (d.h. ein tätlicher
Angriff auf Vorgesetzte)
- Ein Beispiel für
Vorgesetztenmisshandlung:
ein Gefreiter schlug in stark alkoholisiertem Zustand einen
Unteroffizier vom Dienst, der ihn aufgefordert hatte, sich ruhig zu
verhalten, mehrfach mit der Faust ins Gesicht. Er erhielt einen
Arrest und verschärfte Ausgangsbeschränkung.
Die Bundeswehr hat auf diese und andere Vorfälle differenziert
und angemessen reagiert.
Stichwort
(Vertrauenspersonen) /
Soldatenbeteiligung
Das Thema "Vertrauenspersonen" ist auf zwei
Informationsveranstaltungen mit Vertrauenspersonen aller
Dienstgradgruppen sowie Disziplinarvorgesetzten eingehend
erörtert worden.
Soweit es die Vertrauenspersonen selbst angeht, haben sie auf
folgende Sachverhalte besonders aufmerksam gemacht:
Unzulänglichkeiten vor allem bei der Einweisung in die
Aufgabe, fehlende Teilnahmemöglichkeit an den vorgesehenen
Seminaren, zu geringe Mitsprache bei der Gestaltung des
Dienstbetriebes.
Die Disziplinarvorgesetzten räumten mögliche Mängel
bei der Einweisung der Vertrauenspersonen ein; sie machten jedoch
geltend, dass sie durch den Dienst überbeansprucht
würden. Außerdem wünschten sie sich eine Straffung
der Beteiligungsrechte, namentlich im Hinblick auf die Beteiligung
am Dienstbetrieb.
* * *
Zu den Themenfeldern Frauen in der Bundeswehr, Wehrpflicht und
Rechtsextremismus bemerke ich:
Stichwort
Frauen
Die Integration von Frauen in die Bundeswehr gehört heute zum
Truppenalltag. Über 10.000 Frauen leisten jetzt in der
Bundeswehr Dienst; im Vorjahr waren es rd. 9.000 Frauen.
Überwiegend werden sie - wunschgemäß - im
Sanitätsdienst und Stabsdienst eingesetzt. Nennenswerte
Abwehrreaktionen von Soldaten sind selten geblieben. Manche
ältere Soldaten tun sich im Umgang mit ihren Kameradinnen
schwerer als jüngere; sie wollen keine Fehler machen und sich
vor unliebsamen Gerüchten schützen. Der Schutz der
sexuellen Selbstbestimmung ist gewahrt; das Gender-Training soll
auf den Umgang zwischen Soldaten beiderlei Geschlechts
vorbereiten.
Auf Verstöße reagiert die Bundeswehr angemessen. Im
vergangenen Jahr sind beim Wehrbeauftragten 159 Vorfälle (= 40
Eingaben + 119 BVs) mit dem Verdacht auf einen Verstoß gegen
die sexuelle Selbstbestimmung bekannt geworden; im Vorjahr waren es
112 (=29+83). In Rede stehen Zudringlichkeiten verbaler Natur,
teils auch mit körperlichen Kontakten, machistisches Gehabe
oder auch eindeutige Angebote per SMS.
Wenn das im Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz indirekt avisierte
Ziel von 15 % Frauenanteil erreicht werden soll, wird dies auch vom
Ausbau familienfreundlicher Strukturen im militärischen Dienst
abhängen. Ich nenne nur Teilzeitdienst, ich erwähne
Kinderbetreuung und heimatnahe Verwendung. Im Übrigen
unterscheiden sich die Eingaben von Soldatinnen wie auch
mündliches Vorbringen inhaltlich nicht von den
diesbezüglichen Äußerungen ihrer männlichen
Kameraden. In der Regel geht es um Sorgen, um Ärger, um
Schwierigkeiten und um Nöte des militärischen Alltags mit
ganz persönlichem Bezug.
Stichwort
Wehrpflicht
Zur Perspektive: die Truppe, die überwiegend an der
Wehrpflicht wohl festhalten will, erwartet klare Entscheidungen,
die auch Bestand haben. Ein allmähliches, sich lang
hinziehendes Zerbröseln der Wehrform "Wehrpflicht" würde
die notwendigen Anpassungsprozesse, die jetzt Transformation
heißen, verlängern und damit die Truppe zusätzlich
belasten.
Zur Frage der Wehrform "Wehrpflicht" sind nur vereinzelte Eingaben
eingegangen.
Stichwort
Rechtsextremismus
Die Anzahl der Verstöße weicht kaum von der der Vorjahre
ab. Im Jahre 2004 waren es 134 Vorgänge, gegenüber 139 im
Jahre 2003, gegenüber 111 im Jahre 2002. Auch in diesem Jahr
sind es durchweg Propagandadelikte wie das Abspielen
rechtsradikaler Lieder, das Grölen von Nazi-Parolen, das
Zeigen des Hitlergrußes oder rechtsextremistische
Schmierereien; dies alles nicht selten unter Alkoholeinfluß.
Gewalt wurde dabei nicht verübt.
Die Bundeswehr reagiert auch darauf angemessen - bis hin zur
Entfernung aus dem Dienst. Wegweisend war eine Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts. Danach wurde die Entlassung eines
Soldaten bestätigt, weil er als NPD-Kreisvorsitzender nicht
die Gewähr dafür biete, gemäß dem
Soldatengesetz die freiheitliche demokratische Grundordnung
anzuerkennen und durch sein gesamtes Verhalten für ihre
Erhaltung einzutreten.
In der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus genügen
Sanktionen allein nicht. Gerade für die Verhinderung, aber
auch für die Eindämmung dessen ist Politische Bildung
nötig. Dafür muss ausreichend Zeit sein.
Gesellschaftspolitische Prozesse können indessen von der
Bundeswehr nicht allein geschultert werden.
Schlußteil
Zum Jahresbericht gehört Statistisches. Nun denn: 62
Truppenbesuche, 54 sonstige Veranstaltungen; vier
Informations-Tagungen, zahlreiche Einzelgespräche mit
Soldaten, Betreuung von 62 Besuchergruppen (auch internationale)
und regelmäßige Teilnahme an den Sitzungen des
Verteidigungsausschusses - das ist auch Bilanz des Jahres 2004.
6.154 Vorgänge waren zu
bearbeiten; das sind 72 mehr als im Vorjahr und gemessen an der
Jahresdurchschnittsstärke der Bundeswehr von 264.000
Soldatinnen und Soldaten die höchste Eingabenquote seit
Bestehen des Amtes. Einsender waren Mannschaftsdienstgrade bis hin
zu Generalen; die Zeit- und Berufssoldaten waren besonders rege,
die Grundwehrdienstleistenden machten sparsamer vom Eingaberecht
Gebrauch, nämlich unterproportional.
Eingabezahl für das laufende Jahr 2005: rd. 1.000 Eingaben
(Stand 10.03.2005: 978 - das sind im Vergleich zum Vorjahr minus
72). Endgültiges lässt sich natürlich noch nicht
prognostizieren - wir sind ja noch am Anfang des Jahres. Aber es
spricht viel dafür, dass die Anzahl der Eingaben nicht
zurückgehen wird.
Ceterum censeo: Ich gebe die
Erwartung nicht auf, dass die Ost-West-Besoldung fällt. Sie
passt nicht, besonders nicht für die Parlamentsarmee
Bundeswehr.