Kunst im Bundestag (Serie-Teil 3) - Aus "Das Parlament"
Es ist nur ein Schritt hinter die Mauer, die mit etwas Abstand wirkt wie aus verwitterten, rötlich-braunen Ziegelsteinen errichtet und sich erst bei näherem Hinsehen als eine Wand aus Hunderten von rostigen Metallkästen erweist. Wer um sie herumgeht, steht plötzlich in einem langen Gang, der auf beiden Seiten von weiteren, deckenhoch und akkurat übereinander gestapelten Keksdosen begrenzt wird. Das geschäftige Treiben davor, im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes, ist nur wenige Schritte entfernt und doch umfängt einen die stille Abgeschiedenheit des Raumes. Einige wenige Kohlenfadenlampen, schlichte Glühbirnen, die an der Decke in einer geraden Linie befestigt wurden, erhellen diesen Ort, der wie ein Flur in einem Aktenkeller wirkt. Doch hier werden keine Dokumente aufbewahrt, sondern die Erinnerung an mehr als 4.000 deutsche Volksvertreter: Es ist das "Archiv der Deutschen Abgeordneten".
So nannte der französische Künstler Christian Boltanski die Installation, die er für den Bundestag geschaffen hat. In diesem "Kellerarchiv" hat er für alle Abgeordneten, die von 1919 bis 1999, dem Jahr der Einweihung des Reichstagsgebäudes, demokratisch in das deutsche Parlament gewählt wurden, einen Erinnerungsraum geschaffen. Jeder einzelne der exakt 4.781 Metallkästen trägt deshalb den Namen eines dieser Volksvertreter, zudem Angaben zu Parteizugehörigkeit und Dauer seines Mandats.
Boltanski, 1944 in Paris geboren, hat die Wahrnehmung von Vergangenheit zum Hauptthema seines künstlerischen Schaffens gewählt. In seinen frühen Arbeiten beschäftigte er sich intensiv mit der Spurensicherung seiner eigenen Kindheit, später "rekonstruierte" er auch fiktive Lebensläufe mit Hilfe von großformatigen Schwarz-Weiß-Fotos. Seit den 1990er-Jahren beschäftigt sich der französische Künstler auf allgemeinerer Ebene mit dem Thema Vergangenheit und Vergänglichkeit. In der Gegenüberstellung von vergangenem Leben und gegenwärtiger Erinnerung zeigen Boltanskis Werke, wie gleichartig und gleichwertig doch die verschiedenen Leben im Angesicht der Zeit sind.
Für das deutsche Parlament, das 1999 zurück an seinen historischen Ort im Reichstagsgebäude zurückkehrte, hat Boltanski mit dem "Archiv der Deutschen Abgeordneten" diese Idee wieder aufgegriffen und modifiziert: Jeder Abgeordnete wird hier durch das kleine, weiße Namenschild auf der Stirnseite des Metallkastens als historische Person anerkannt, dennoch kommt in der Stapelung der sich ähnelnden Kästen auch der Gedanke der Gleichheit zum Ausdruck: Die Erinnerung soll allen gelten. Eine Gleichbehandlung, die verwundern, sogar schockieren mag, schließlich ist einer der Metallkästen mit dem Namen Adolf Hitlers beschriftet, auch andere NSDAP-Abgeordnete sind vertreten. "Immer wieder gibt es Nachfragen", erzählt Andreas Kaernbach, Kurator der parlamentarischen Kunstsammlung, "und dann erklären wir, dass wir ehrlich mit unserer Geschichte umgehen müssen." Man dürfe nichts beschönigen, nichts weglassen. Aber trotz dieser Kritik, die ihn regelmäßig dazu zwingt, erläuternde Briefe zu schreiben, findet Kaernbach es gut, wenn Kunst Reaktionen provoziert. Dazu sei sie schließlich auch da, so der Kurator. Manchmal jedoch entladen sich diese Reaktionen als Handgreiflichkeiten: Namensschildchen von NSDAP-Abgeordneten werden abgerissen, Metallboxen durch Fußtritte verbeult. Die Vergangenheit ist für manche scheinbar noch heute schwer zu ertragen.
So ging es auch dem Künstler: "Mir war dabei unwohl, die Namen der Nazi-Abgeordneten in das Archiv aufzunehmen", bekannte Christian Boltanski bei der Übergabe seiner Installation. Doch hatte er sich bewusst dazu entschieden, alle Abgeordneten in das Archiv aufzunehmen. Täter wie Opfer, Hinterbänkler ebenso wie jene, die die Geschicke Deutschlands maßgeblich beeinflusst haben. Von diesem Prinzip weicht der Künstler nur in zwei Punkten ab: Die Kästen der Abgeordneten, die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden, sind mit einem schwarzen Streifen gekennzeichnet. Zudem repräsentiert in der Mitte des Ganges eine schwarze Box die Jahre 1933 bis 1945, als in Deutschland die parlamentarische Demokratie von von der Diktatur ausgehebelt war. "Ich wollte den Angeordneten heute sagen: ,Seid wachsam!', erklärte Boltanski sein Vorgehen. "All die Namen tragen dieses Gebäude und bewirken, dass es da oben den Bundestag gibt." Und tatsächlich: Die Mauern aus Namenskästchen wirken wie ein tragendes Fundament des Parlaments.