Wochenschau- und Fernsehkameras surren, von der Schulter des großen Bundesadlers an der Stirnwand des Plenarsaals späht eine Kamera auf die Stuhlreihen der Parlamentarier, die bereits zu Beginn der Sitzung um neun Uhr morgens voll besetzt sind. Auf der überfüllten Besuchertribüne des Bundestages drängen sich junge Leute, im Plenum nimmt Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) auf der Regierungsbank Platz. Noch ahnt niemand, welch eine Marathonsitzung ihnen bevorsteht. Doch dass an diesem 6. Juli 1956 eine der wichtigsten Debatten im Parlament seit Bestehen der Bundesrepublik stattfindet, ist jedem klar. Einziger Punkt der Tagesordnung: Schlussdebatte und namentliche Abstimmung über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.
Wehrpflicht heftig umstritten
Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition sieht vor, dass alle Männer zwischen dem 18. und 45. Lebensjahr einen 18-monatigen Grundwehrdienst und spätere Wehrübungen ableisten sollen. In der Öffentlichkeit ist dieses Vorhaben heftig umstritten. Zehntausende sind nach seinem Bekanntwerden im Februar 1956 auf die Straße gegangen. Unter dem Motto "Ohne mich!" protestierten sie gegen diese neue Dimension der Wiederbewaffnung, die spätestens seit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO im Frühjahr 1955 im vollen Gange ist. Ungeheuerlich erscheint ihnen elf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Vorstellung, dass junge Deutsche wieder zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden sollen. Zudem zweifeln sie angesichts der politischen Großwetterlage am Sinn der allgemeinen Wehrpflicht: Nach Stalins Tod ist eine Phase der leichten Entspannung zwischen Ost und West angebrochen, und die NATO plant, ihre konventionellen Streitkräfte in Europa zu reduzieren.
Argumente des Kalten Krieges
Auch die SPD lehnt die allgemeine Wehrpflicht ab. Sie hält eine deutlich kleinere Berufsarmee für zeitgemäßer. Als "tiefe Tragik" bezeichnet es etwa Fritz Erler, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, dass im geteilten Deutschland "zwei Armeen eingeschmolzen werden in einander feindlich gegenüberstehende Militärblöcke". Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik würden seiner Meinung nach die internationalen Abrüstungsgespräche negativ beeinflusst und die Spaltung Deutschlands vertieft. "Die Argumente des Kalten Krieges gelten heute nicht mehr", ruft Erler den Abgeordneten zu, "der Kreuzzug findet nicht statt". Die Bundesrepublik sei dabei, sich zum "letzten standhaften Zinnsoldaten des Kalten Krieges" zu entwickeln. Seine Kritik unterstreicht Erler mit den Worten, dass ein anderes Parlament andere Wege gehen müsse, um Frieden und Sicherheit zu erreichen.
Verhängnisvolle Wendung?
"Meine Damen und Herren, wie kann Herr Kollege Erler sagen: Die Argumente des Kalten Krieges gelten nicht mehr; der Kalte Krieg findet nicht statt", kontert darauf Bundeskanzler Adenauer. "Fühlt er denn nicht, dass wir in einer der erregendsten Phasen des Kalten Krieges mittendrin sind? Fühlt denn niemand auch auf der Seite der Opposition, dass wir, wenn die Bundesrepublik sich in diesem Augenblick einfach mit den Händen in dem Schoß hinsetzte, damit dem Kalten Kriege eine Wendung geben würden, die geradezu verhängnisvoll wäre?!"
16 Stunden heißer Debatte
Über 16 Stunden lang ringen die Abgeordneten um das geplante Wehrpflichtgesetz und insgesamt 31 Änderungsanträge - leidenschaftlich und auf hohem Niveau, wie die Presse übereinstimmend festhält. "Wer die Reden mit anhören konnte - 16 Stunden heißer Debatte! - muss gespürt haben, dass das Parlament einen großen Tag hatte", schreibt etwa die Zeitung "Die Welt".
Rede mit eisigem Schweigen quittiert
Zur Qualität der Aussprache trägt sicherlich bei, dass sich die Abgeordneten nicht immer in den von ihren Fraktionsführungen vorgezeichneten Argumentationsbahnen bewegen. Der CDU-Abgeordnete Peter Nellen etwa plädiert - letztlich vergeblich - in einer eindrucksvollen Rede dafür, der Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst weiteren Raum zu lassen als im Gesetzentwurf vorgesehen. Während seine eigene Fraktion seine Rede mit eisigem Schweigen quittiert, erntet sie auf Seiten der SPD stürmischen Beifall.
Erste 10.000 wehrpflichtige Rekruten
Um halb vier Uhr morgens am 7. Juli 1956 ist es dann soweit: Der Bundestag nimmt das Wehrpflichtgesetz mit 270 gegen 166 Stimmen bei 20 Enthaltungen an. Die Frage der Dauer des Grundwehrdienstes wird bei der namentlichen Abstimmung allerdings noch ausgeklammert. Erst im Oktober 1956 wird sie, entgegen den Absprachen mit der NATO, auf zwölf Monate festgelegt. Am 1. April 1957 rücken dann die ersten 10.000 wehrpflichtigen Rekruten in die bundesdeutschen Kasernen ein.
Artikel von Nicole Alexander in "Das Parlament" Nr. 27 / 03.07.2006