Ulla Burchardt im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament"
Die Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Ulla Burchardt (SPD), warnt vor einem Scheitern des Nationalen Bildungsgipfels am 22. Oktober 2008. Im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" fordert sie verbindliche Ziele zwischen Bund und Ländern zur Verbesserung des Bildungssystems. Ein Misserfolg wäre nicht nur fatal für die Bundeskanzlerin, sondern auch "eine riesengroße Enttäuschung bei den Bürgern gegenüber den politischen Repräsentanten“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die "Bildungsrepublik
Deutschland" ausgerufen. Wie sollte die ganz konkret
aussehen?
Alle Menschen sollten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleiche Chance haben, alle Bildungswege zu beschreiten. Dazu gehört, dass es eine gebührenfreie Bildung von der Kita bis zum Master-Abschluss, ein Schüler- und ein Erwachsenenbafög gibt. So ist Bildung ein öffentliches Gut und gibt Menschen bis ins Alter die Möglichkeit, Neues dazuzulernen.
Die Ministerpräsidenten der Länder und die Kanzlerin
werden am 22. Dezember zum Bildungsgipfel zusammenkommen. Was
erwarten Sie als Vorsitzende des Bildungsausschusses von einem
solchen Treffen?
Man muss endlich zu verbindlichen Zielvereinbarungen zwischen Bund und Ländern kommen. Eine „Bildungsrepublik“ ist nur mit einem gemeinsamen strategischen Vorgehen zu erreichen. Aber wir stellen fest, dass sich nach den hohen Erwartungen auch Enttäuschungen ankündigen. Ich bin besorgt, dass es im Moment noch keine konkreten Ziele für die Abschlusserklärung des Gipfels gibt.
Was für ein Ziel könnte das sein?
Es müssen zum Beispiel Entscheidungen getroffen werden, wie es gelingen kann, die Zahl der Schulabbrecher zu halbieren, 40 % Studienanfänger zu bekommen, mindestens 200.000 neue Studienplätze zu schaffen und die Weiterbildungsbeteiligung auf 60 % zu erhöhen. Damit würde Deutschland zu den vergleichbaren westlichen Industriestaaten aufschließen.
Könnte der Gipfel auch scheitern?
Das wäre nicht nur fatal für die Bundeskanzlerin, sondern auch eine riesengroße Enttäuschung bei den Bürgern gegenüber den politischen Repräsentanten. Denn die Menschen sagen, es ist höchste Zeit, dass Bund und Länder gesamtstaatliche Verantwortung übernehmen.
Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat
angekündigt, dass die Bundesregierung bis 2012 rund sechs
Milliarden Euro zusätzlich in die Bildung investieren
will. Reicht das aus?
Fakt ist, dass im Bundeshaushalt sechs Milliarden Euro für Bildung verteilt auf die Ministerien für Bildung, Familie und Arbeit vorgesehen sind. Das ist eine beachtliche Summe, aber wir wissen alle, dass die Gesamtaufwendungen für Bildung nicht ausreichen. Erforderlich ist eine Erhöhung der Bildungsausgaben von derzeit 6,2 Prozent des BIP auf 7 Prozent.
Eine mögliche Einnahmequelle wäre das Geld, das den
Ländern durch den Rückgang der Schülerzahlen
entsteht - der demographischen Dividende. Wie kann erreicht werden,
dass die Länder dieses Geld wieder in Bildung
investieren?
Das Minimum ist, dass sich die Länder verbindlich verpflichten, dieses Geld im Bildungssystem zu belassen. Allerdings sind das noch keine Einnahmen bzw. Zusatzausgaben.
Letzte Woche wurde der Bundesbildungsbericht debattiert, der von
Bund und Ländern gemeinsam erstellt wurde. Wo sieht diese
Bestandaufnahme der Bildungspolitik Probleme, wo
Chancen?
Er sieht Fortschritte im Bereich frühkindlicher Bildung und Betreuung. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, in den 90er-Jahren eingeführt, ist ein ganz wichtiger Punkt gewesen. Nun hat die Koalition das 4-Milliarden-Programm mit Rechtsansprüchen auf Betreuung für Unterdreijährige auf den Weg gebracht.
Und wo gibt es noch Nachholbedarf?
Scharfe Kritik übt der Bericht an der mangelnden Durchlässigkeit und starken Selektivität des Bildungssystems. Noch immer verlassen 8 Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss, sie haben kaum Berufsperspektiven. Direkte Übergänge aus der dualen Ausbildung in die Beschäftigung nehmen weiter ab, der nahtlose Übergang aus der Berufsausbildung in die Hochschule ist kaum möglich. Auch die Beteiligung an der Weiterbildung stagniert…
Hat die Hauptschule als Teil des dreigliedrigen Schulsystems in
ihrer heutigen Form überhaupt noch eine Chance?
Es gibt eine Abstimmung mit den Füßen. In weiten Regionen Deutschlands gibt es kaum noch Anmeldungen für diese Schulform. 40 Prozent der Hauptschüler haben nach zwei Jahren noch keinen Ausbildungsplatz gefunden und landen letztendlich in Warteschleifen. Das längere gemeinsame Lernen wird kommen.
Die Gegner einer Abschaffung erklären, dadurch würde eine
„Einheitsbreischule“ geschaffen…
Das ist ein ideologischer Kampfbegriff. Da wird ein Schreckgespenst an die Wand gemalt, um sich nicht mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Wenn man von dem dreigliedrigen Schulsystem eine Schulform wegnimmt, wie es jetzt in mehreren Ländern schon geschehen ist, bleiben immer noch zwei. Wo längeres gemeinsames Lernen stattfindet, wie in den skandinavischen Ländern, gibt es ein hohes Maß an Binnendifferenzierung, so dass alle Kinder nach ihren Möglichkeiten gefördert werden. Laut Bildungsbericht benachteiligt das dreigliedrige Schulsystem Migrantenkinder und Kinder aus bildungsfernen Familien massiv.
Wie können gerade diese Kinder gefördert
werden?
Hier brauchen wir frühe Bildungsangebote auch gerade für Kinder unter drei Jahren. Perspektivisch muss die frühkindliche Bildung gebührenfrei sein. Wichtig ist es, sehr früh mit Sprachförderung zu beginnen – nicht nur bei Migrantenkindern.
Gerade dafür aber braucht man gutes pädagogisches
Personal...
Die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher sind viel höher geworden, deswegen ist eine bessere Qualifizierung so wichtig. Ein erster Schritt ist die aktuell geplante Öffnung der Aufstiegsfortbildung für diese Berufsgruppe. Perspektivisch muss, wie in anderen Ländern, eine akademische Ausbildung geben.
Sie haben vor einiger Zeit kritisiert, dass der „Aufstieg
durch Bildung“ ein uneingelöstes Versprechen ist. Gab es
hier Verbesserungen?
In der letzten Woche hat der Bundestag die Bildungsprämie, die noch in diesem Jahr kommen wird, beschlossen. Neu ist der Ausbildungsbonus, um jungen Menschen in "Warteschleifen" den Einstieg in Ausbildung zu ermöglichen. Auch die Einstiegsqualifizierung für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz im Rahmen des Ausbildungspaktes ist erfolgreich. Aber das reicht noch lange nicht.
Wie kann das Bildungssystem durchlässiger werden?
Das hängt auch davon ab, inwieweit Brücken gebaut werden. Über das Erwähnte hinaus ist die Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte notwendig, auch um die drohende Fachkräftelücke zu schließen – dazu bedarf es einer bundeseinheitlichen Regelung.
Wo liegen weitere Probleme für den
Hochschulzugang?
Es gibt zu viele Hürden auf dem Weg in die Hochschule. Studiengebühren und flächendeckende lokale numerus clausi (NCs) spielen eine große Rolle. Und wir haben leider auch einen inakzeptablen Bürokratiedschungel beim Zugang an die Hochschulen.
Sie machen sich seit langem für lebenslanges Lernen stark. Was
heißt das für Sie?
In jeder Lebensphase bis ins Alter Zugang zu Bildungsangeboten zu haben. Und persönlich: als Abgeordnete hat man die große Chance, soviel an neuem Wissen zu erhalten, dass die Zeit nicht ausreicht, alles aufzunehmen.
Das Interview führten Sandra Ketterer und Annette Sach.
Ulla Burchardt (SPD) ist Diplompädagogin und Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.