"Um diesen Vorgang zu dokumentieren, suchte ich Orte auf, von denen Symbole der DDR-Geschichte entfernt worden sind. Ich bat Passanten und Anwohner, die Gegenstände zu beschreiben, die einst diese leeren Stellen füllten. Ich fotografierte die Abwesenheit und ersetzte die fehlenden Monumente durch die Erinnerungen an sie." (Sophie Calle)
Knapp und präzise beschreibt die Künstlerin das
Konzept ihrer Installation "Die Entfernung - The Detachment". Mit diesem Konzept ist es ihr
gelungen, anschaulich den Umgang mit Geschichte im
wiedervereinigten Berlin aufzuzeigen, zu dokumentieren und zugleich
Grundfragen unserer Existenz aufzuwerfen, z.B. in welcher Weise und
in welchem Umfang wir erinnern und wie Gedächtnis und das
Gefühl der eigenen Identität einander bedingen.
Um solche Grundfragen kreist das künstlerische Schaffen von
Sophie Calle seit ihren ersten Arbeiten Anfang der 80er Jahre. Im
Mittelpunkt ihres Interesses stand zunächst die Frage nach der
eigenen Identität, da sie, von einem mehrjährigen
Auslandsaufenthalt nach Paris zurückgekehrt, versuchen
mußte, sich in der ihr fremd gewordenen Stadt ihrer
Jugendjahre erneut zurechtzufinden. Einer solchen
Wiederannäherung an das unbekannt gewordene einst Bekannte
diente ein geradezu voyeuristisches Projekt: Heimlich verfolgte sie
einen Unbekannten durch die Stadt, dokumentierte seinen Weg mit
Kamera und Notizblock und konstruierte sodann aus diesen
"Dokumenten" Pariser Alltagsgeschichten in der Schwebe zwischen
Fiktion und Realität. Solches Changieren zwischen
realistischer Dokumentation und fiktivem Konstrukt kennzeichnet
auch ihre weiteren Arbeiten: So verfolgt sie - observierend wie ein
Privatdetektiv - einen flüchtigen Bekannten nach Venedig
("Suite Vénitienne",
1980) oder durchsucht, nachdem sie sich als Zimmermädchen hat
einstellen lassen, in einem venezianischen Hotel die Koffer der
Hotelgäste nach Spuren dieser ihr fremden Lebensläufe
("Das Hotel", 1981). Bei einem weiteren Projekt läßt sie
sich selbst durch einen Detektiv, der von ihrer Mutter beauftragt
wurde, überwachen und vergleicht anschließend seinen
Observierungsbericht mit ihren eigenen Notizen - und
läßt ihn wiederum bei seiner Observierung von einem
Freund beobachten ("Der Schatten", 1981).
Deutlich wird an diesen Beispielen, wie die Erhellung der
eigenen Existenz bestimmt ist von der Faszination durch den
Vergleich mit fremden Lebensvollzügen, so daß aus dieser
Begegnung mit einem Anderssein, beispielsweise mit einem Russen auf
der Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn ("Anatoli", 1984), der
Blick für das eigene So-Sein geschärft wird. Deutlich
wird jedoch auch, daß die Fülle der gesammelten
Informationen über andere Menschen deren Individualität
nicht erfahrbar macht - im Gegenteil - je mehr Informationen
zusammengetragen werden, je näher man der Person zu kommen
glaubt, desto schemenhafter, ungreifbarer erscheint durch die oft
widersprüchlichen Beobachtungen und Schilderungen die
Persönlichkeit des Beobachteten ("Der Mann mit dem
Adressbuch", 1983).
Ähnlich verhält es sich mit der Installation "Die Entfernung - The Detachment": Die Leerstelle auf dem Foto, die den Ort zeigt, wo das Monument einst gestanden oder zum Beispiel das Staatsemblem der DDR am Palast der Republik einst gehangen hat, kann durch die Erinnerungen der Passanten nicht gefüllt werden. Ihre Äußerungen sind zum Teil so widersprüchlich, daß der Leser unsicher wird, ob die Passanten-Beschreibungen ein- und dasselbe Monument meinen - auch in der Erinnerung "entfernt" sich das Monument. Zugleich zeigen die sehr emotionalen Texte, wie gegenwärtig das Verschwundene im Bewußtsein der Menschen noch ist. Die Installation von Sophie Calle öffnet also den Blick für die Vielschichtigkeit der Wahrnehmung von Realität und für die gleichermaßen komplexe Verschränkung des Historischen mit der Gegenwart. "
geb. 1953 in Paris, lebt in Paris und New York.
Installation "Die Entfernung - The
Detachment"
12 Farbfotografien und 12 Bücher, 1996
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Berlin
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages