Unmittelbar an der Spreepromenade verbinden 19 jeweils
ungefähr drei Meter hohe Glasscheiben einen Außenhof des
Jakob-Kaiser-Hauses mit dem Uferbereich. In die Glasscheiben sind
die 19 Grundrechtsartikel des Grundgesetzes mit Laser eingraviert.
Die Grundrechtsartikel schweben gleichsam in Augenhöhe vor dem
Haus der Fraktionen, dem Jakob-Kaiser-Haus. Auf diese Weise hat der
israelische Künstler Dani Karavan mit seinem "Grundgesetz 49"
benannten Werk eine auch konzeptionell auf den Ort des Parlamentes
bezogene Installation geschaffen, in der das Wort als Gesetz im
Mittelpunkt steht. Diese Idee verbindet seine Installation mit den
"Wortkunstwerken" in den angrenzenden Parlamentsbauten: mit den
Leuchtschriftbändern Jenny Holzers im
Reichstagsgebäude, auf denen Parlamentsreden optisch als Texte
ablaufen. Ferner mit den Metallintarsien im Boden der Halle des
Paul-Löbe-Hauses, für die Joseph Kosuth Zitate von Thomas
Mann und Ricarda Huch ausgesucht hat und mit der Neoninstallation von Maurizio Nannucci in
der Bibliotheksrotunde im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Deren
blau leuchtende Sätze regen zum Philosophieren über die
Bedingungen von Gleichheit und Freiheit an.
Die künstlerische Herausforderung, vor die Dani Karavan
sich in diesem zentralen Bereich des Parlamentsviertels gestellt
sah, kam seiner Arbeitsweise entgegen. Er gilt als einer der
bedeutendsten internationalen Künstler, der Landschafts- und
Stadträume zu neuen Erfahrungsräumen zu gestalten
weiß. Seine Arbeitsweise läßt sich daher nicht in
die herkömmlichen Kategorien künstlerischen Schaffens
eines Architekten, eines Bildhauers, Environment- oder
Konzept-Künstlers einordnen. Vielmehr entnimmt er Elemente aus
all diesen Bereichen und verbindet sie zu einem neuen,
raumgreifenden Gesamtkunstwerk. Berühmt wurde sein in diesem
Stil gestaltetes Negev-Monument, das in der weiten Leere der
Negev-Wüste mit begehbaren Betonskulpturen, Windharfen und
Bäumen einen mythischen Ort schafft. Auch in Deutschland haben
Dani Karavans Kunstwerke beeindruckt. So beispielsweise im Jahre
1993 die Straße der Menschenrechte in Nürnberg vor dem
Germanischen Nationalmuseum. In Berlin, nahe am
Reichstagsgebäude, wird er das Mahnmal zur Erinnerung an die
von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma
gestalten.
Der entscheidende Grundgedanke für die Installation vor dem
Jakob-Kaiser-Haus war die Überlegung Karavans, mit Hilfe jener
meterhohen Glasplatten - anstelle von Gittern oder Brüstungen
- eine Verbindung des Hofes zur Spreepromenade zu schaffen, die ein
hohes Maß an Sichtdurchlässigkeit gewährleistet.
Aus dem Hofbereich heraus entwickeln sich unter diesen Glasplatten
hindurch strahlenförmige Bodenstrukturen, von
Cortenstahlbändern eingefaßte Grasstreifen, bis zum
Spreeufer. Aus der Alleenreihe der Bäume entlang der Spree ist
einer der Bäume, die Glaswand gleichsam überspringend, in
den Hofbereich versetzt. Zum Hof hinauf vom Jakob-Kaiser-Haus her
führt eine Treppenanlage, die in sechs - technisch ohnehin
notwendigen - Abluftkaminen gipfelt. Dani Karvan läßt
sie wie die Schornsteine eines gestrandeten Dampfers aus dem Boden
ragen und zugleich die strahlenförmige Linienführung
betonen. Durch diese raumgreifende Gestaltung wird Karavans
Vorliebe für Grenzüberschreitungen im Ästhetischen
sichtbar: Architektur und Landschaft, also Parlamentsbauten, Spree
und Spreebogen, verschmelzen zu einer neuen ästhetischen
Einheit.
Daß auf jeder der 19 Glasplatten eines der 19 Grundrechte des Grundgesetzes in der Fassung aus dem Jahre 1949 zu lesen ist, erweitert die raumgestaltende formale Konzeption des Künstlers um ein inhaltliches Element von wesentlicher Bedeutung. Diese 19 Grundrechtsartikel, unmittelbar an der Spree gesetzt, die einst Ost- und West-Berlin trennte, erinnern an die schwierigen Jahre der Gründung der jungen deutschen Demokratie in Bonn. Sie mahnen, die wiedererlangte Einheit nicht als ungefährdete Selbstverständlichkeit und Politik in Berlin nicht als geschichts- und voraussetzungslos zu begreifen. So wird den Bürgern, die an der Spreepromenade entlanggehen, die Leistung der Mütter und Väter des Grundgesetzes wieder bewußt. In den wenigen Monaten vom September 1948 bis zum Mai 1949 haben sie im Parlamentarischen Rat eine Verfassung entworfen, die bis heute Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland sichert. Zugleich wird durch die klare, von allen Zusätzen und Ergänzungen freie Formulierung aus dem Jahre 1949 das Wesentliche des Grundgesetzes und der Grundrechte aller Deutschen im wortwörtlichen Sinne transparent und auf eine neue, eindringliche Weise sichtbar gemacht.
geboren 1930 in Tel Aviv, lebt und arbeitet in Tel Aviv, Paris
und Florenz "Grundgesetz 49", Glasstelen und
Cortenstahlbänder, 1998 / 2003, Hof, Haus 3, Spreepromenade am
Jakob-Kaiser-Haus Berlin
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages