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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: An Weisungen nicht gebunden
Gültig ab: 01.10.2009 10:52
Autor: Dr. Sönke Petersen
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An Weisungen nicht gebunden

Freies Mandat

Ist der Bundestag in Routine erstarrt? Nickt er nur noch ab, was andere – Regierung, Parteien, Europäische Union, Lobbyvertreter oder Medien – vorgeben? Wie frei sind unsere Abgeordneten? Im Streitpunkt von BLICKPUNKT BUNDESTAG diskutieren darüber zwei erfahrene Parlamentarier: der ehemalige Bundesminister und frühere Bundestagsvizepräsident Rudolf Seiters (CDU) und der langjährige Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Werner Schulz.

Fischschwarm

© akspix/herbyberger

Seit Bestehen der Bundesrepublik wird über die Frage diskutiert, wie unabhängig Abgeordnete in ihren Entscheidungen sind. Schon die Verfassungsväter und -mütter sahen die Herausforderungen einer modernen Parteiendemokratie, in der im Parlament die Fraktionen zu den entscheidenden Größen wurden. Einerseits billigten sie den Parteien zu, „an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken” (Artikel 21 des Grundgesetzes), andererseits sicherten sie den Abgeordneten ein „freies Mandat” zu. Danach sind diese – so heißt es in Artikel 38 des Grundgesetzes – „Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen”.

Rudolf Seiters und Werner Schulz
Rudolf Seiters (links im Bild) und Werner Schulz
© DBT/photothek.net/Thomas Imo

Wichtige Entscheidungen des Parlaments werden in Koalitions- und Parteirunden verlagert, Gesetzentwürfe auch durch Rechtsanwaltskanzleien oder Interessenvertretungen vorformuliert, und die EU in Brüssel trifft für alle Bürger verbindliche Vorentscheidungen. Das provoziert Klagen über einen „ohnmächtigen Bundestag”. Formal hat Bundestagspräsident Norbert Lammert deshalb recht, wenn er über den Deutschen Bundestag sagt: „Hier ist der Ort der Letztentscheidung. Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht.”

Dennoch hat auch das Parlament selbst eine gewisse Unruhe über die eigene Rolle erfasst. Wie unabhängig ist der Bundestag noch? So lautet – nicht nur bei den Oppositionsfraktionen – die selbstkritische Frage.

BLICKPUNKT BUNDESTAG nimmt die Diskussion auf, denn sie bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern wird auch den gerade neu gewählten Bundestag beschäftigen. Als Diskutanten für das Streitgespräch über die Unabhängigkeit unserer Volksvertreter argumentieren zwei erfahrene ehemalige Parlamentarier: Der CDU-Politiker Rudolf Seiters hat eine beachtliche Karriere aufzuweisen, in der es auch immer wieder um die Unabhängigkeit des Mandates ging: 33 Jahre saß Rudolf Seiters im Bundestag; er war Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion, später Kanzleramts- und Bundesinnenminister. Von 1998 bis 2002 war er Vizepräsident des Bundestages. Heute ist Rudolf Seiters Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.

Werner Schulz
Werner Schulz
© DBT/photothek.net/Thomas Imo

Auch der ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Werner Schulz – er war von 1990 bis 2005 Mitglied des Bundestages und zeitweise Parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen – kennt den Zwiespalt zwischen Geschlossenheitsanspruch der Fraktionen und der unabhängigen Sichtweise von Abgeordneten. Im Juli 2005 kritisierte er in scharfer Form die von Bundeskanzler Gerhard Schröder gestellte Vertrauensfrage. Hierbei verglich er das Vorgehen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering mit dem in der SED-dominierten Volkskammer, wo die Partei- und Staatsführung die Abgeordneten „eingeladen” habe, sich dem Willen der Partei anzuschließen. Die Rede von Schulz löste einerseits Empörung aus, wurde andererseits als „Rede des Jahres” von der Universität Tübingen ausgezeichnet. Werner Schulz ist heute Europa-Abgeordneter.

Blickpunkt Bundestag: Herr Seiters, wie frei darf ein Abgeordneter sein?

Rudolf Seiters
Rudolf Seiters
© DBT/photothek.net/Thomas Imo

Rudolf Seiters: Der Abgeordnete ist nach dem Bundesverfassungsgericht Träger des freien Mandats und nach dem Grundgesetz nur seinem Gewissen unterworfen. Aber er wird natürlich nicht als Einzelperson gewählt, sondern als Vertreter einer Partei. Insofern erwarten die Wähler zu Recht, dass er die Politik der Fraktion vertritt und diese im Parlament möglichst geschlossen auftritt.

Blickpunkt: Herr Schulz, und wie unabhängig ist ein Abgeordneter in der parlamentarischen Praxis?

Werner Schulz: Dort ist das häufig ein schwieriger Balanceakt. Natürlich ist man Vertreter einer Partei, aber es gibt ab und zu Biegungen, an denen man den Weg der Partei nicht mitgehen kann, wo man aus der Reihe ausschert. Abgesichert durch das Grundgesetz, in dem es heißt: Abgeordnete sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Blickpunkt: Wie weit reicht das Gewissen? Kann man jede Entscheidung zur Gewissensentscheidung erklären?

Seiters: Nein. Es gibt eine ganze Reihe von Entscheidungen, die reine Sachentscheidungen sind und bei denen das individuelle Gewissen nicht strapaziert werden kann. Das ist sogar der Normalfall im Parlament. Aber selbstverständlich gibt es auch vereinzelt Gewissensentscheidungen von Abgeordneten. Und die werden in der Regel von den Fraktionsführungen auch akzeptiert.

Schulz: Na ja, da gibt es schon erhebliche Unterschiede. In Regierungsfraktionen etwa ist der Druck auf Abgeordnete ziemlich stark, weil die eigene Mehrheit auf dem Spiel stehen kann. Die Hauptfrage aber ist doch: Was ist überhaupt eine Gewissensfrage? Wo beginnt sie, wo hört sie auf? Für mich war es immer die Frage, ob ich gegen meine eigenen Überzeugungen stimmen muss, nur weil die Fraktionsdisziplin es verlangt.

Blickpunkt: Sie selbst haben mehrfach quer zu Ihrer Fraktion gestanden, zuletzt mit Ihrem Plädoyer für die freie Entscheidung bei der konstruierten Vertrauensfrage von Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2005. Hat da Ihr Gewissen geschlagen?

Schulz: Das war eine ganz und gar verschwiemelte Angelegenheit. Denn Gerhard Schröder hatte ja eine stabile Mehrheit im Parlament, es gab auch keine Entscheidungen mehr, wo diese Mehrheit infrage gestellt war. Schröder war nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen politisch gescheitert und hatte einfach keine Lust mehr, die Sache bis zum Ende durchzustehen. Ihn dabei mit einer fingierten Vertrauensfrage zu unterstützen – das fand und finde ich als Tiefpunkt der demokratischen Kultur.

Seiters: Herr Schulz hat damals für seine Rede zu Recht viel Beifall aus dem Hause erhalten. Es gab querbeet schon Unbehagen am damaligen Vorgang.

Schulz: Ich fand eine andere Vertrauensfrage, nämlich die zum Afghanistaneinsatz, noch fragwürdiger. Dafür hatte Schröder keine eigene Mehrheit von Rot-Grün, wohl aber eine breite Mehrheit von sicherlich über 90 Prozent im gesamten Parlament. Nur um die eigene Mehrheit doch zu erreichen, wurde extremer Druck auf uns ausgeübt.

Seiters: Ich verstehe Ihren Unmut. Aber vergessen Sie nicht: Eine fehlende eigene Mehrheit wird immer zur Waffe in der Hand des politischen Gegners. Die Union hätte damals sicherlich gesagt: Seht her, der Kanzler hat seinen eigenen Laden nicht im Griff. So etwas ist rasch der Anfang vom Ende.

Schulz: Das sehe ich nicht so. Es wäre doch durchaus souverän gewesen, wenn der Kanzler gesagt hätte, mir sind – im Interesse unserer Soldaten – 90 Prozent Zustimmung des ganzen Hauses wertvoller als eine nur mit der Knute erreichte knappe Mehrheit von Rot-Grün.

Seiters: Das ist natürlich auch richtig.

Blickpunkt: Hat auch die Öffentlichkeit einen schizophrenen Blick auf das Parlament? Denn sie fordert Geschlossenheit, um gleich anschließend mangelnde Lebendigkeit zu beklagen.

„Die Fraktion darf die Loyalität ihrer Abgeordneten verlangen; was sie nicht machen sollte, ist Druck ausüben.”
Werner Schulz

Schulz: Das ist sicher zwiespältig. Man darf die Qualität der Parlamentsarbeit ohnehin nicht am Zuhören und an der Platzbesetzung im Plenarsaal messen. Die Lebendigkeit muss nicht zwangsläufig nur im Plenum des Bundestages sichtbar werden, sie ist auch stark in den Parteien und Fraktionen zu Hause. In Fraktionssitzungen wird nun wirklich heftig gestritten und gerungen, zumindest bei schwerwiegenden Themen wie Krieg und Frieden und soziale Gerechtigkeit. Schade, dass solche Sitzungen nicht öffentlich sind. Die Fraktion darf anschließend die Loyalität ihrer Abgeordneten verlangen; was sie nicht machen sollte, ist Druck ausüben.

Blickpunkt: Fragen wir konkret: Gibt es einen Fraktionszwang?

Seiters: Den habe ich in meiner Zeit nie erlebt. Aber es gibt schon so etwas wie Fraktionsdisziplin. Das bedeutet, dass die Fraktionsführung erwarten darf, dass die Fraktion nach Möglichkeit im Plenum geschlossen abstimmt und dass bei einer abweichenden Haltung die Führung rechtzeitig informiert und ihr Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch gegeben wird. Sie muss ja einschätzen können, ob ihre Mehrheit gefährdet ist.

Schulz: Einverstanden. Was aber umgekehrt auch nicht geht, ist ein Druck, wie ihn Franz Müntefering auf die Abgeordneten seiner Partei ausgeübt hat, als er sie darauf hinwies, dass sie nicht von ihrem Gewissen, sondern von der Partei als Kandidaten aufgestellt wurden. Denn das bedeutete doch implizit: Wenn ihr unfolgsam seid, ist euer Mandat in Gefahr.

Seiters: Ganz ohne Risiko ist nun einmal das Abgeordnetendasein nicht. Der Politiker, der sich weder durchzusetzen vermag noch bereit ist, die Konsequenzen seiner divergierenden Auffassung zu tragen, entspricht nicht dem Typ des Abgeordneten, den das Grundgesetz voraussetzt. Das ist ein Zitat von Konrad Hesse, dem ich zustimme.

Blickpunkt: Wenn 600 Abgeordnete nur nach eigenem Gutdünken entschieden, fiele der Bundestag ins Chaos. In welchem Maße muss es also eine politische Gefolgschaftstreue geben?

„Jeder Abgeordnete weiß, dass er im Bundestag kein Einzelkämpfer sein kann.”
Rudolf Seiters

Seiters: Jeder Abgeordnete weiß, dass er im Bundestag kein Einzelkämpfer sein kann, dass er seine politischen Vorstellungen nur mit anderen zusammen durchsetzen kann. Deshalb ist es ja auch ein schwerwiegender Entschluss, möglicherweise die Mehrheit der eigenen Fraktion aufs Spiel zu setzen. Aber wenn der Abgeordnete davon wirklich überzeugt ist, muss man das respektieren. Für den Abgeordneten ist es zugleich wichtig, im privaten wie im beruflichen Bereich wirklich unabhängig zu sein. Denn sonst ist er in seiner Abstimmung nicht wirklich frei.

Blickpunkt: Fehlt es im Deutschen Bundestag an selbstbewussten und unabhängigen Abgeordneten?

Seiters: Ich war 33 Jahre lang Mitglied des Parlaments. Wenn ich heute mit dem Abstand einiger Jahre sagen würde, wir waren damals viel selbstbewusster, käme mir das eigenartig vor. Der Bundestag ist auch heute ein durchaus selbstbewusstes Parlament.

Schulz: Mir erschienen frühere Bundestage lebendiger und offener. Aber vielleicht war das nur mein Blick aus der DDR. Ich glaube, es betrifft auch gar nicht so sehr den einzelnen Abgeordneten. Ich habe eher den Eindruck, dass die Abgeordneten insgesamt an Einfluss verlieren und der Selbstentmachtung wenig entgegenzusetzen haben. Aktuelles Beispiel: die EU und der Lissabon-Vertrag. Sie erleben einen schleichenden Einflussverlust durch die Regierung, durch die Beamten, durch die global organisierte Wirtschaftslobby und durch die Medien. Das alles wirkt sich aus. Es laufen nicht mehr die großen Richtungsdebatten und Entscheidungen im Bundestag.

Blickpunkt: Heißt dies, dass es mit der Unabhängigkeit und der Eigenständigkeit der Abgeordneten gegenüber äußeren Einflüssen aus Regierung, Lobbyismus und Medien nicht weit her ist?

Seiters: Die Versuchung bei Politikern, sich die Gunst von Medien zu sichern, ist ohne Frage groß. Da gilt es, Ehrgeiz zu zügeln. Informationskontakte zu Regierung, Lobbyvertretern und Medien sind grundsätzlich aber in Ordnung, eigentlich sogar unersetzbar.

Schulz: Eigenständigkeit und Unabhängigkeit verlangen Charakter und Widerstandskraft. Leider geht die schwatzende Klasse lieber in Talkshows anstatt die Sendung selbst zu übernehmen und Streit- und Diskussionskultur aus dem Parlament, dem eigentlichen Haus der Demokratie, zu zeigen. So verstärkt man eher das Schattendasein und den Bedeutungsverlust des Bundestages.

Blickpunkt: Gehen Geschlossenheit und Effektivität auch zu Lasten von Kreativität und Transparenz?

Seiters: Nicht unbedingt. In den Fraktionen und ihren Arbeitskreisen wird ja durchaus heftig diskutiert und gestritten. Als Parlamentarischer Geschäftsführer meiner Fraktion habe ich das damals durchaus mit gemischten Gefühlen verfolgt. Denn man wollte ja, dass alles reibungslos über die Bühne geht. Aber Diskussionen müssen sein. Ebenso muss aber sein, dass eine getroffene Mehrheitsentscheidung auch akzeptiert wird. Das ist wichtig für das Erscheinungsbild der Partei und für die Erwartungshaltung der Wähler.

Blickpunkt: Im neuen Bundestag könnte es zu knappen Mehrheitsverhältnissen kommen. Werden dann Präsenz und Geschlossenheit neue Urstände feiern?

Schulz: Natürlich braucht man bei einer knappen Mehrheit von beispielsweise zwei Stimmen Disziplin und Geschlossenheit. Seltsamerweise wirken sie in einer solchen Konstellation auch. Bei einer großen Mehrheit kann der Einzelne leichter sagen: Auf mich kommt es nicht an.

Seiters: Richtig. In einer großen Koalition gehört nicht viel Mut dazu, sich querzustellen. Die Verantwortung des Abgeordneten ist bei einer knappen Mehrheit größer. Das muss sich jeder Parlamentarier klarmachen. Aber das ist eher eine Chance als ein Nachteil.

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Gespräch: Dr. Sönke Petersen 
Erschienen am 2. Oktober 2009

Zur Person:

Werner Schulz, war in der DDR in der Oppositionsbewegung aktiv und gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Neuen Forums. Der gelernte Lebensmittelingenieur war 1990 Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Volkskammer und seit 1990 Parlamentarischer Geschäftsführer im Deutschen Bundestag. Bei der Bundestagswahl 2005 unterlag er Wolfgang Thierse (SPD) als Direktkandidat im Wahlkreises Berlin-Pankow. Seit Juni 2009 ist Schulz Abgeordneter im Europäischen Parlament

Zur Person:

Rudolf Seiters, war mehr als drei Jahrzehnte Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Der Jurist war Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, bis ihn Bundeskanzler Helmut Kohl 1989 als Chef des Bundeskanzleramts und 1991 als Bundesminister des Inneren ins Kabinett berief. Zwischen 1998 und 2002 war Rudolf Seiters Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seit 2003 ist er Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.


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