Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts über die Leistungen und Vorzüge des Grundgesetzes und über die Bedeutung des Artikels 146
Blickpunkt Spezial: Im
Herbst 1948 begannen im Parlamentarischen Rat die Arbeiten zum
Grundgesetz. Was hat im Rückblick das Grundgesetz
geleistet?
Winfried Hassemer: Es gab viele
grundlegende Entwicklungen, die den Zustand unseres Staatswesens
nach dem Zweiten Weltkrieg geformt haben. Das Grundgesetz war nur
ein Faktor — freilich ein sehr gewichtiger, betrachtet man
einmal die Wirkungen von „Verfassung” für das
Gemeinwesen in unserer Geschichte und bei unseren Nachbarn. So wird
man sagen können, dass innerer Friede, Stabilität der
Institutionen und der Stellenwert von „Gerechtigkeit”
in der Bundesrepublik sich auch dem Grundgesetz verdanken.
Blickpunkt: Sind auch
Versäumnisse festzustellen? Hätte es etwa nach der
Wiedervereinigung einer Grundreform bedurft?
Hassemer: Das Grundgesetz hat die
künftige Entwicklung erstaunlich gut vorausgesehen — bis
auf bestimmte Bereiche, etwa in der Wirtschaft. Die
Wiedervereinigung war deshalb eher ein Anlass für eine
feierliche Bestätigungdes Grundgesetzes im vereinigten
Deutschland als für eine Grundreform. Ich habe aber
Verständnis für diejenigen, die fürchten, eine
Entscheidung einer so komplexen Grundfrage könnte — wie
wir das auch derzeit in „Europa” sehen — aus den
falschen Gründen negativ ausfallen. Dennoch: Schade.
Blickpunkt: Über das
Grundgesetz ist nie vom Volk direkt abgestimmt worden. Ist das ein
Geburtsfehler?
Hassemer: Nein. Natürlich liegt
es nahe und ist es demokratisch selbstverständlich, über
eine Verfassung direkt abzustimmen, bevor sie in Kraft tritt; das
ist auch meine Meinung. Andererseits gibt es gerade bei einer
Verfassung so etwas wie eine „Legitimation durch
Zusammenleben”: durch die alltägliche, auf einem breiten
Konsens beruhende, im öffentlichen Streit über
Einzelheiten immer wieder bestätigte Zustimmung zur
Verfassungswirklichkeit.
Blickpunkt: Warum behält
sich das Grundgesetz in Artikel 146 vor, durch Volksabstimmung eine
neue Verfassung zu beschließen?
Hassemer: Das Bonner Grundgesetz ist
auch durch Vorläufigkeit und Offenheit gekennzeichnet; gerade
das hat ihm nach meiner Meinung eine lebendige und belastbare
Stabilität verliehen. Sieht man das so, dann lässt sich
Artikel 146 als feierliche und öffentliche Erinnerung daran
verstehen, dass auch die gelebte Verfassung der förmlichen
Zustimmung des Volkes bedarf und bis dahin eben vorläufig ist.
Mehr sollte ein Verfassungstext nicht anordnen.
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Erschienen am 13. August 2008
Professor Winfried Hassemer (2. von links), Jahrgang 1940, gilt als einer der profiliertesten Juristen Deutschlands. Seit 1996 war er Richter am Bundesverfassungsgericht, ab 2002 bis zu seiner Pensionierung im Mai 2008 als Vizepräsident und Vorsitzender des Zweiten Senats.