Der spanische Sozialdemokrat Josep Borrell ist der 11. Präsident des seit 1979 direkt gewählten Europäischen Parlaments in Straßburg. Er wurde im Juli 2004 auf Grund einer Absprache zwischen den beiden größten Fraktionen, der konservativen EVP (268 Mitglieder) und den Sozialdemokraten (199) gewählt. Danach teilen sich in dieser Legislaturperiode beide Gruppen die fünfjährige Präsidentschaft. Anfang 2007 soll der gegenwärtige Fraktionschef der EVP, Hans-Gert Pöttering, Borrells Nachfolger werden.
Für den 57-jährigen Katalanen Josep Borrell glich die Berufung an die Spitze des Parlaments dem berühmten Sprung ins kalte Wasser. Im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger kannte er Parlamentsarbeit bis dahin nur aus der spanischen Nationalversammlung. Als deren Vertreter hatte er sich im EU-Verfassungskonvent jedoch intensiv mit Europa und der Zukunft der EU-Verträge befasst.
Über seine Aufgaben in dem Vielvölkerparlament heißt es in der Geschäftsordnung: "Der Präsident leitet sämtliche Arbeiten des Parlaments und seiner Organe. Er besitzt alle Befugnisse, um bei den Beratungen des Parlaments den Vorsitz zu führen und deren ordnungsgemäßen Ablauf zu gewährleisten." Diese Formulierung sagt allerdings wenig darüber aus, in wieweit es ein politisches Mandat für den Mann an der Spitze der Versammlung gibt. Möglich wird eine politische Einflussnahme auf zwei Ebenen - der internen Führung sowie der Vertretung nach außen. Sie hängt stark von den persönlichen Intentionen und den charismatischen Fähigkeiten ab. Hierfür war Borrells Vorgänger, der Ire Pat Cox ein gutes Beispiel. Er nutzte seine große Popularität, um das Parlament in der Öffentlichkeit bekannter zu machen.
In Innern sind die entscheidende Gremien, in denen der Präsident über seine koordinierende Funktion Einfluss ausüben kann, das Präsidium sowie die Konferenz der Präsidenten. Ersteres besteht aus dem Präsidenten, den vierzehn Vizepräsidenten des Parlaments sowie den fünf für spezielle Verwaltungsfunktionen zuständigen so genannten Quästoren. Die Konferenz der Präsidenten, die am ehesten mit dem Ältestenrat des Bundestages verglichen werden kann, ist das politische Leitungsgremium des Europäischen Parlaments. Das Präsidium und die Vorsitzenden der Fraktionen bestimmen darin alle wichtigen Weichenstellungen der parlamentarischen Arbeit - von der Aufstellung der Tagesordnung bis hin zu wichtigen Entscheidungen der Gesetzgebung.
Politisch sichtbar wird der Präsident durch die Vertretung des Parlaments nach außen: Im internationalen Bereich, bei offiziellen Anlässen sowie in Verwaltungs- Gerichts- und Finanzangelegenheiten, heißt es in der Geschäftsordnung. Besonders wichtig ist der Auftritt des Parlamentspräsidenten jeweils zum Auftakt der EU-Gipfel. Wie in der vergangenen Woche in Brüssel übermittelt er dort den Staats- und Regierungschefs die Auffassung der Europaabgeordneten. Für Aufregung sorgte bei einem Gipfel die von der EVP gestellte Französin Nicole Fontaine, als sie 2000 in Lissabon den Regierungschefs vorwarf, eine Politik des ungezähmten Kapitalismus und des Sozialdumping zu vertreten und so das europäischen Ideal der sozialen Solidarität zu verletzen.
Zur ersten Präsidentin war 1979 die von den Liberalen gestellte Französin Simone Veil gewählt worden. Die Überlebende des Konzentrationslagers in Dachau genoss hohes internationales Renommee, machte sich in Straßburg aber wegen ihres Führungsstils wenig Freunde. Die Deutschen stellten bisher zwei Parlamentspräsidenten: den Konservativen Egon Klepsch, der in seiner Wirkung eher blass blieb und den Sozialdemokraten Klaus Hänsch, dessen Name sowohl mit internen Reformen des Parlaments als auch mit der institutionellen Weiterentwicklung der EU verbunden wird. Mit Hans-Gerd Pöttering könnte ab 2007 bereits zum dritten Mal ein Deutscher den Präsidentenplatz einnehmen.