THOMAS DIETERICH
Der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts und Verfassungsrichter sagt, Streiks dürfen nicht zerstörerisch sein.
Herr Dieterich, die Lokführer können mit ihrem Arbeitskampf die halbe Repub-lik lahmlegen. Wenn eine Kleingewerkschaft der ganzen Volkswirtschaft schadet, wirft das sehr grundsätzliche Fragen für die Tarifpolitik auf. Hat das Recht auf berufsständischen Egoismus keine Grenzen?
Das Streikrecht hat Grenzen, der Egoismus hat keine. In der Marktwirtschaft darf doch auch der Unternehmer egoistisch handeln, das vergessen viele Streikkritiker gern. Das Recht bewertet nie die Motive eines Arbeitskampfes - das ist auch gut so, sonst würde uns nämlich ständig eine Aushöhlung des Streikrechts drohen. Das Tarifsystem rechnet durchaus mit dem Egoismus der Akteure und vertraut auf Selbstregulierung statt auf staatliche Eingriffe, ganz entgegen den Vorurteilen seiner Gegner ist es da ganz modern. Es stattet Arbeitgeber wie Arbeitnehmer mit einer soliden Position aus, wodurch es sie meist zum Kompromiss zwingt und so am Ende den Egoismus mäßigt.
Gibt es dennoch Grenzen? Oder müssen diese neu gezogen werden, wie mancher meint?
Das Recht greift ein, wenn der Streik missbräuchlich ist und Grundrechte verletzt, also der Lokführer etwa seinen Zug auf offener Strecke stehen lässt und damit die Passagiere ihrer Freiheit beraubt oder gar gefährdet. Deshalb gab es bei den Streiks der Ärzte, das ist ja auch so eine spezialisierte Truppe, immer Notdienste in den Krankenhäusern. Ein Streik darf nicht zerstörerisch sein, also ein Unternehmen vernichten. Und das beim Streik Geforderte muss tariflich regelbar und rechtens sein. Wer hier Grenzen neu ziehen will, der reagiert damit nicht auf eine neue tarifpolitische Situation, sondern der attackiert das Streikrecht grundsätzlich.
Ist es verhältnismäßig, wenn eine kleine Arbeitnehmergruppe, die in einer zentralen Branche eine Schlüsselposition inne hat - Lockführer, Klinik-Ärzte oder Piloten -, diese zur Blockade nutzt?
Es ist ein Grundrecht, nachzulesen in Artikel 9 Absatz 3 unserer Verfassung, dass jeder sich mit anderen in einer Gewerkschaft zusammenschließen kann. Ohne das Recht auf Arbeitskampf wäre dies ein zahnloses Grundrecht. Die Schadenshöhe ist kein geeigneter Ansatz für eine Güterabwägung. Streiks müssen weh tun können, und in der zunehmend eng miteinander vernetzten Wirtschaft sind bei Arbeitsniederlegungen Fernwirkungen auf Unbeteiligte normal. Das tarifpolitisch Neue, dass sich beim aktuellen Konflikt exemplarisch zeigt, ist woanders zu suchen.
Wo sehen Sie denn dieses Neue?
Die Bindungskraft des Tarifsystems scheint zu schwinden. Das zeigt sich äußerlich am Mitgliederschwund von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, aber dahinter steckt ein Wandel der Interessenlagen und der Wertvorstellungen. Der eine Faktor ist der Trend zum Individualismus, der schlecht passt zum Solidaritätsgedanken des Tarifsystems, wo immer Gruppen auf Gruppen treffen, und wo in der Gruppe der eine für den anderen einsteht. Der zweite Faktor ist der globalisierte Wettbewerb. Bislang gewährleistete das Tarifsystem, dass alle Firmen in einer Branche ihren Beschäftigten das Gleiche bezahlten, der soziale Standard eines Unternehmens also nicht zum Wettbewerbsnachteil wird. Das hat den ja auch für Unternehmer schmerzlichen Konkurrenzkampf eingehegt. Diese Kartellfunktion hat im grenzüberschreitenden Wettbewerb an Bedeutung verloren. Für die Chinesen gilt unser Tarif eben nicht. Nun hat das deutsche Lohnsystem hierauf natürlich reagiert. Längst gibt es bei den meisten Abschlüssen Flexibilität, die notleidenden Betrieben ein Abweichen erlaubt. Wo aber bei den Unternehmen nicht mehr der einheitliche Standard für alle gilt, da scheren auch einzelne Beschäftigtengruppen aus - etwa die Lokführer.
Die begründen ihren Alleingang damit, sie sorgten für die Sicherheit der Fahrgäste und würden dafür jämmerlich entlohnt. Das Ausscheren aus der Solidarität der Tarifgemeinschaft aller Bahnbeschäftigten rechtfertigen die Lokführer also mit moralischem Pathos - und täuschen darüber hinweg, dass die Mitarbeiter in den Fahrdienstleitstellen mindestens ebensoviel Verantwortung tragen. Was bedeutet dieses schräge Moralisieren für die Tarifpolitik?
Es geht um den Einfluss auf die öffentliche Meinung. Die wird in Zukunft ein weit wichtigerer Kampffaktor als bisher. Das hat Gründe. Zum einen nimmt die Verzahnung der Gesellschaft immer mehr zu, genau wie die der Wirtschaft, so dass Streikfolgen direkt und indirekt viel mehr Menschen treffen als früher. Da müssen die Streikenden um Verständnis werben, und die Arbeitgeber halten dagegen. Zum anderen: Wo langfristige Solidarität nicht mehr die vorherrschende Wertvorstellung ist, da müssen Gewerkschaften auf kurzfristige Empörungszustände bauen.
Die zunehmende Bedeutung der öffentlichen Meinung in der Tarifpolitik erklärt sich also aus dem schon skizzierten Wandel der Interessenlagen und Wertvorstellungen?
Genau so ist es. Und das ist neu.
Viele fürchten, bei einer Zersplitterung der Gewerkschaften werde die Streikdrohung Dauerzustand. Eine berechtigte Sorge?
Nein. Eine Gewerkschaft zu gründen und tariffähig zu machen, ist keine Kleinigkeit. Bis Gerichte eine Organisation anerkennen, muss diese beweisen, dass sie auch tatsächlich genügend Mitglieder hat und durchsetzungsfähig ist. Das ist das Kriterium der so genannten Mächtigkeit. Bei den Lokführern genauso wie bei den Ärzten und Piloten hat es lange gedauert, bis sie eine kampfstarke Organisation aufgebaut hatten.
Dennoch: Ist die Tarifeinheit nicht ein hohes Gut, das durch konfliktfreudige Kleingewerkschaften gefährdet ist? Und das geschützt werden sollte?
Es ist zwar richtig, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund eine Großtat vollbracht hat, als er nach dem Krieg statt konkurrierender politischer Richtungsgewerkschaften die Einheitsgewerkschaft aufgebaut hat. Dazu gehörte auch die Devise: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass es in der Bundesrepublik bislang weit weniger Arbeitskämpfe gab als in anderen industriealisierten Ländern, sogar in den viel gelobten USA gehen pro Kopf mehr Arbeitstage durch Streik verloren als bei uns. Ordnungspolitisch war das also zu begrüßen. Aber die Tarifeinheit war nie Gegenstand der Rechtssetzung. Sie muss aus der tarifpolitischen Praxis entstehen, sie kann nicht verordnet werden.
Das Bundesarbeitsgericht hat doch einst das Prinzip der Tarifeinheit aufgestellt...
Das war eine richterrechtlich sehr kühne Behauptung. Wenn da ein Tarifvertrag im Unternehmen als der allein gültige angenommen wird, dann soll es plötzlich gar nichts mehr zählen, dass ein Arbeitnehmer sich einer anderen Organisation angeschlossen hat, die eben einen anderen Tarifvertrag vereinbart hat? Das wäre doch paradox. Ich halte derlei für kaum vereinbar mit dem so wichtigen Grundrecht, sich zu Vereinigungen mit wirtschaftlichem Zweck frei zusammenzuschließen.
Die Lokführer setzen auf Radikalität und haben damit etwa in München schon einige hundert Straßenbahnfahrer zum Übertritt bewogen. Setzt Radikalität sich durch? Ist dies die tarifpolitisch grundsätzliche Bedeutung des Konflikts?
Zunächst muss man sehen, dass im Streit bei der Bahn beide Seiten ungewöhnlich unflexibel und konfrontativ vorgehen. Auch jenseits dieses einen Unternehmens zeigt die Reaktion der Reisenden, dass viele Menschen ihre Arbeitssituation unerträglich finden und genug haben von der Herr-im-Haus-Mentalität mancher Manager. Deshalb begrüßen sie radikale Forderungen wie die der Lokführer. Radikalität entsteht also nicht einfach so und von allein, sie hat Ursachen. Zahlt sich Radikalität allerdings aus, so hat das Folgen. Die Bahngewerkschaft Transnet wird wohl nicht so friedlich bleiben, wie sie bislang war. Andere Arbeitnehmerorganisationen beobachten sehr genau, ob ein Krawallkurs sich lohnt. z
Das Interview führte Jonas Viering.