Mindestlohn
Sechs weitere Branchen werden in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen
Wer als Opfer zu bedauern ist, hängt ganz von der Perspektive ab. In der Debatte am 22. Januar, in der der Bundestag die Neufassung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) und des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes (MiArbG) diskutierte und schließlich beschloss, machte die FDP gleich zwei bedauernswerte Gruppen aus. Die eine war die Unionsfraktion: "Sie werden von der SPD Stück für Stück weiter über den Tisch gezogen", warnte der Arbeitsmarktexperte der Liberalen Heinrich Kolb und empfahl seine Partei damit schon einmal indirekt als Koalitionspartner. Die zweite Gruppe waren jene, denen diese Gesetze zu Mindestlöhnen verhelfen sollen: "Die Zahl der von Mindestlöhnen betroffenen Beschäftigten wird sich verfünffachen", so das düstere Szenario des Liberalen. Mindestlöhne würden Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich vernichten, und das sei schließlich nicht im Sinne der Beschäftigten. Deshalb bleibe die FDP bei ihrer strikten Ablehnung: "Nie waren Mindestlöhne so falsch wie heute."
Die Koalition sieht das anders und beschloss deshalb, neben den bereits im AEntG enthaltenen drei Branchen (Baugewerbe, Gebäudereinigung und Postdienstleistungen) sechs weitere in das Gesetz mit einzubeziehen: die Pflegebranche, die Sicherheitsdienstleistungen, den Bergbau, die Wäschereibranche, die Abfallwirtschaft und die Aus- und Weiterbildung. Das Gesetz ermöglicht es, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, sobald die Tarifpartner einer Branche gemeinsam einen entsprechenden Antrag stellen. Über diesen wird dann ein Tarifausschuss befinden. Das zweite beschlossene Gesetz, das MiArbG, fungiert als eine Art Ergänzung, da es die Möglichkeit schafft, auch für Branchen mit einer geringen Tarifbindung oder ohne tarifliche Regelungen Mindestentgelte festzulegen.
Für Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) war der 22. Januar deshalb ein Tag zum Feiern: "Inklusive der noch ausstehenden Regelungen für die Leiharbeiter werden am Ende 4 Millionen Arbeitnehmer durch Mindestlöhne geschützt sein." Die Vorstellung, dass der Markt das Problem allein lösen werde, habe sich als katastrophale Fehleinschätzung erwiesen, sagte Scholz.
Erst Mitte Januar veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg (IAB) eine Studie, nach der fünf Prozent der Vollzeit-Erwerbstätigen zu den "Working Poor" gehören. Der Begriff wurde in den USA geprägt und bezeichnet Menschen, die von einem Vollzeitjob nicht leben können. In Deutschland, so die Studie des IAB, hat sich von 1999 bis 2005 der Anteil der Armutsgefährdeten unter den Vollzeit-Erwerbstätigen von drei auf sechs Prozent verdoppelt. Im Jahr 2006 sei die Quote zwar um ein Prozent gesunken, durch die Folgen der Finanzkrise sei dieser Rückgang aber wieder gefährdet, so die Forscher. Insgesamt arbeiten in Deutschland mehr als 6 Millionen Menschen im Niedriglohnbereich, der mit einem Anteil von rund 22 Prozent der größte in den EU-Ländern ist. Er liegt damit nur noch knapp unter dem Niveau von 25 Prozent in den USA.
Brigitte Pothmer (Bündnis 90/Die Grünen) sprach in der Debatte dann auch von "amerikanischen Verhältnissen" und fügte an: "Diese Entgelte sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, und deshalb muss man an dieser Stelle politisch tätig werden." Allerdings sei mit den Gesetzen eine "große Chance vertan" worden, nämlich, alle Branchen in das AEntG aufzunehmen. "Da steht zwar Mindestlohn drauf, aber es ist leider kein Mindestlohn drin", sagte die Grüne enttäuscht.
Enttäuscht äußert sich auch der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Sachsen-Anhalt, Udo Gebhardt: "Das Kernproblem ist damit nicht gelöst." Stundenlöhne von zum Teil 6 Euro, auf die sich die Tarifparteien des Sicherheitsgewerbes geeinigt haben, reichten nicht aus, so Gebhardt. Im Osten des Landes arbeiten doppelt so viele Menschen im Niedriglohnbereich wie im Westen. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel müssten von den rund 750.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten rund 80.000 zusätzlich Sozialleistungen in Anspruch nehmen. "Das kostet den Steuerzahler eine Viertel Milliarde Euro im Jahr", sagt der Gewerkschafter. Seit Jahren schon fordert der DGB deshalb einen bundesweiten Mindestlohn von 7,50 Euro.
Dem widerspricht Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) vehement. "Ein solcher Mindestlohn ist insgesamt beschäftigungsfeindlich. Mittelfristig würde das Ausmaß der Arbeitslosigkeit deutlich steigen", sagt der Wissenschaftler. Dennoch müsse der Staat die Menschen vor sittenwidrigen Löhnen schützen.
Aus der Sicht des Arbeitsmarktexperten der CDU/CSU, Ralf Brauksiepe, hat der Staat nun die "richtige Antwort" gegeben. Und an die FDP gerichtet, sagte er: "Wo es Branchen ohne Tarifbindung gibt, kann auch keine Tarifautonomie gefährdet werden."
Eine "richtige Antwort" wäre für den Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi, allerdings ein flächendeckender Mindestlohn gewesen. "Was ist daran so schlimm, einen Mindeststandard einzuführen?", fragte er unter Hinweis auf Frankreich und Großbritannien, wo ein gesetzlicher Mindestlohn seit Jahren existiert. Wer eine gute Arbeit leistet, müsse auch in Würde davon leben können, so Gysi. Das nächste Wort hat nun im Februar der Bundesrat.