Holocaust
Eine Geschichte über die Ängste und Schuldgefühle eines Überlebenden
Steven Spielberg hätte diese Geschichte nicht besser erfinden und erzählen können. Ein jüdischer, etwa sechsjähriger Junge entkommt im Herbst 1941 nur knapp einer Massenerschießung in einem weißrussischen Dorf unweit von Minsk. Doch bevor er sich in die Weite der umliegenden Wälder flüchtet, muss er noch mit ansehen, wie seine Mutter von Soldaten erschossen und seine beiden Geschwister mit dem Bajonett erstochen werden.
Kurze Zeit nach den grausamen Ereignissen greift ihn eine lettische Polizeibrigade auf und rettet ihn überraschend vor dem nächsten Massenexodus. Obgleich sein Retter ihn an seiner Beschneidung als Jude erkennt, darf er sich ihm und seiner Einheit unter strengster Geheimhaltung dieses "Erkennungszeichens" anschließen. Als "Maskottchen" der Truppe, das den Soldaten fortan nicht nur die Stube kehrt, die Gläser mit Wodka füllt und in einer für ihn maßgeschneiderten SS-Uniform abgelichtet wird, sondern auch Zeuge von Vergewaltigungen und Vernichtungsaktionen wird.
Nur durch großes Glück und Geschick überlebt der Junge die Zeit hinter der Ostfront und gelangt 1944 unter dem Schutz einer Fabrikantenfamilie aus Riga in den Westen. Eine unglaubliche, aber vermutlich wahre Geschichte, vertraut man den lückenhaften und schmerzhaften Erinnerungen von Alex Kurzem, die sein Sohn Mark dank nächtelanger Gespräche mit seinem Vater, Zeitzeugeninterviews und Ortsbegehungen zu einer fast schon romanreifen Dokumentation verdichtet hat.
Trotz des dramaturgisch geschliffenen Aufbaus und der sprachlich ausgefeilten Dialoge, Situationsbeschreibungen und Gefühlsausbrüche wäre es nicht fair, dem Autor per se historische Ungenauigkeit und persönliche Befangenheit anzulasten. Was dem Leser angesichts manch melodramatischer Szene und Sentenz allerdings nicht immer leicht fällt.
Mark Kurzem geht es in seinen Aufzeichnungen nicht darum, eine sensationelle Story zu erzählen, die sich von denen aller anderen Holocaustüberlebenden abhebt. Er legt wert darauf, die Leidensgeschichte seines Vaters möglichst lebensnah festzuhalten. Kurzem versucht zu verstehen und darzustellen, wie ein Kind die grausamen Bilder der Vernichtung und Demütigungen verarbeiten und gute Miene zum bösen Spiel seiner "Beschützer" machen konnte. Vor allem aber, mit welchen Gewissenbissen sich sein Vater von damals bis heute plagt, weil er nicht gemeinsam mit seiner Mutter in den Tod ging, seine Beschützer von damals später nicht als Kriegsver- brecher verraten und der eigenen Familie sein Schicksal jahrzehntelang verheimlicht hat.
Es ist aber nicht allein die haarscharfe Beobachtung und Beschreibung seines Vaters, die das Besondere des Buches ausmacht, sondern die parallel dazu geschilderten Empfindungen des Autors und der anderen Angehörigen. Anders als bei den "professionell" durchgeführten Interviews der Holocaust Center weitet sich hier der Blick vom tatsächlich erlebten Schrecken des Opfers bis hin zur Bewältigung oder Verdrängung im Kreis der Familie. Auch wer danach fragt, wie groß der historische Wahrheitsgehalt der vagen Kindheitserinnerungen eines heute über 70-Jährigen ist, erhält Antwort. Allerdings reicht sie nur soweit wie die Nachforschungen des Autors. Immerhin haben sie ihn an den vermutlichen Geburtsort seines Vaters und zu dessen vermutlichen Verwandten und Bekannten in Weißrussland geführt.
Alex Kurzem haben die Recherchen eine längst als verloren geglaubte Identität wieder gegeben. Von den Gewissensbissen und Seelennöten hat ihn die erfolgreiche Suche nach der eigenen Vergangenheit zwar nicht befreit, wohl aber ein "Arrangieren mit der Vergangenheit" ermöglicht und den Lesern die Angst- und Schuldgefühle eines Holocaustüberlebenden deutlich vor Augen geführt.
Maskottchen. Wie ein jüdischer Junge den Holocaust überlebte.
Scherz Verlag, Frankfurt/M 2008; 448 S., 19,90 ¤