Medien
Seit mehr als 50 Jahren gilt die »Tagesschau« als die unbestrittene Nummer Eins unter den Nachrichtensendungen
Vor dem Gong müssen die Teller in der Spülmaschine sein, nach dem Wetter müssen die Kinder ins Bett. So eingebrannt ins Leben des Landes ist die ,Tagesschau', dass Abend für Abend zehn Millionen Menschen zugucken und erfahren, dass die Welt schlecht ist und traurig, aber heute so verständlich wie gestern, immer sortiert nämlich in zehn Minuten Film und fünf Minuten Wort, fehlerfrei verlesen vom Blatt." So charakterisierte der Journalist Klaus Brinkbäumer in einem "Spiegel"-Artikel mit dem vielsagenden Titel "Das deutsche Hochamt" die meistgesehene Nachrichtensendung des Landes.
Brinkbäumers treffende Beschreibung umreißt weitestgehend auch die inhaltliche Spannbreite des Sammelbandes, den die Journalisten Nea Matzen und Christian Radler der "Tagesschau" gewidmet haben.
Die beiden Journalisten, die auch als Journalistik-Dozenten tätig sind, haben zusammen mit zwölf ihrer Studenten der Universität Hamburg, einen Blick hinter die Kulissen des Mythos' "Tagesschau" geworfen. In die einzelnen Beiträge, die die Entwicklungsgeschichte der Nachrichtensendung, die täglichen Produktionsabläufe und die rasanten technischen Veränderungen beleuchten, sind gut 50 Interviews mit Redakteuren, Maskenbildnern, Korrespondenten, Medienwissenschaftlern und natürlich den Sprechern der "Tagesschau", deren Gesichter Millionen von Deutschen so vertraut sind, eingeflossen. Präsentiert bekommt der Leser keine harte medienwissenschaftliche Kost, sondern ein journalistisch flott und -trotz prinzipieller Zuneigung zur "Mutter aller Nachrichtensendungen" - durchaus kritische und ausgwogene Darstellung.
Einen der inhaltlichen Schwerpunkte haben die Macher des Buches auf die Berichterstattung in Krisen-, Kriegs- und Katastrophenfällen gelegt. Und das mit gutem Grund: "Wenn Bomben fallen, Trümmer qualmen und Panzer über den Bildschirm rollen", schreibt Malte Werner, "dann schalten die Zuschauer den Fernseher ein. In Deutschland heißt das in den meisten Fällen: Sie schalten die ,Tagesschau' ein." Während des Truppenaufmarsches am Golf Mitte August 1990 beispielsweise war die ,Tagesschau' an neun von 15 Tagen die meistgesehene deutschsprachige Fernsehsendung. An vier weiteren Tagen lag sie auf Platz zwei. Doch das erhöhte Zuschauerinteresse birgt Gefahren. So fordert die Heimatredaktion in solchen Krisenzeiten jeweils einen eigenen Beitrag für die Sendungen um 15, 17 und 20 Uhr von ihren Auslandskorrespondenten ein. Hinzu kommen Berichte für die "Tagesthemen" und das "Nachtmagazin". In der Konsequenz bedeutet dies für die Korrespondenten, dass sie immer in der Nähe der Sendestation und des Schnittplatzes bleiben müssen. Das geht zu Lasten der Recherche. Zwar versucht die ARD durch Personalaufstockungen in der jeweiligen Region auf die erhöhten Anforderungen zu reagieren. Doch völlig Auflösen lässt sich das Problem nach Ansicht des ehemaligen Korrespondeten Friedhelm Brebeck nicht: "Der Reporter soll ein Ereignis einatmen, er soll es sehen, es berühren, sich berühren lassen. Das können sie spätestens beim zweiten Beitrag dann schon nicht mehr."
Aber nicht nur den Korrespondenten vor Ort wird in Kriegs- und Krisenzeiten alles abverlangt. Auch die Heimatredaktion in Hamburg gelangt zuweilen an die Grenzen der sonst üblichen Qualität in der Berichterstattung, wie der Beitrag von Christine Lübbers und Malte Werner über den 11. September 2001 und "die längste ,Tagesschau' aller Zeiten" zeigt. So geriet der "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert in die Kritik, weil er "fahrig" und "zunehmend hektisch" gewirkt habe. Die Betroffenheit und Fassungslosigkeit des Moderators, so meinte der Medienwissenschaftler Knut Hicke-thier, habe die Zuschauer beunruhigt und verstört. Insgesamt erntete die ARD keine Lorbeeren an diesem Tag. Während Privatsender wie RTL bereits aus New York über den Terrorangriff berichteten, sendete das Erste noch einen Tierfilm. "An diesem Tag", so gesteht "Tagesschau"-Filmchef Ekkehard Launer ein, "bin ich nicht stolz nach Hause gegangen. Das war die schlechteste 20-Uhr-Ausgabe, ich will nicht sagen aller Zeiten, aber schon eine der schlechtesten."
Den Tiefpunkt der "Tagesschau" würden andere Beobachter vielleicht auf den 24. Februar 2004 terminieren, als die 20-Uhr-Ausgabe über den Unfall des ehemaligen "Deutschland-sucht-den-Superstar"-Kandidaten Daniel Küblböck mit einem Gurkenlaster berichtete. Franziska Horsch und Marcus Schuster zeigen in ihrem Beitrag über die Nachrichtenauswahl der Sendung, dass auch die seriöse "Tagesschau" zuweilen der Versuchung erliegt, mit Boulevard-Themen zu punkten. Eine Folge des härter gewordenen Konkurrenzkampfes auch mit den Nachrichtensendungen der Privaten. Doch für diesen Kampf gelten trotz aller Veränderungen in den Sehgewohnheiten der Deutschen bis heute die resignierenden Worte des ehemaligen RTL-Chefes Thoma: "Die ,Tagesschau' ist keine Sendung, sondern pure Gewohnheit. Die kann man auch in Latein verlesen."
UVK Verlag, Konstanz 2009; 326 S., 24,90 ¤