Indien
Eine belletristische und bitterböse Abrechnung mit der Gesellschaft
Was ist denn das für eine Story? Ein armer Schlucker aus Bihar, einem der ärmsten Landstriche Indiens, erbettelt einen Job, ermordet seinen Chef und gründet mit dessen Schmiergeldern ein florierendes Unternehmen. Auf mehr als 300 Seiten schreibt er das. Per E-Mail, man könnte auch sagen Bekennerschreiben, an den chinesischen Premierminister. Der Schreiber hat im Radio gehört, dass Wen Jiabao in die High-Tech-Metropole Bangalore kommt, um indische Unternehmer und ihre Erfolgsgeschichten zu hören. Da soll seine eigene nicht fehlen. In sieben langen Nächten tippt er sie in seinen silbernen Apple-Laptop. Er unterschreibt: "Der Weiße Tiger, Ein Denker und Unternehmer, wohnhaft in der Welthauptstadt von Computertechnologie und Outsourcing, Indien."
Was der indische Autor Aravind Adiga dem Schreiber in die Tastatur diktiert, hat vielen Indern weniger gefallen als der internationalen Kritik. Den Booker-Preis hat er im vergangenen Jahr dafür bekommen, als vierter Inder nach Salman Rushdie, Arundhati Roy und Kiran Desai. Als er aber im November sein Werk in München vorstellen wollte, sagte der 34-jährige plötzlich ab. Angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe, teilte er mit, würde ihm jede Reise ins Ausland zurzeit als Flucht ausgelegt. Starker Tobak. Schließlich ist "Der Weiße Tiger" ein belletristisches Werk. Andererseits gehört es zu dem Bösesten, was - jedenfalls mit so großem internationalen Widerhall -über die indischen Führungseliten wie über die Mittelschicht nach außen getragen wurde. "Der Weiße Tiger" ist ein Frontalangriff auf den Gegensatz zwischen Arm und Reich, Macht und Ohnmacht, - oder, wie es der Protagonist sagt, "denen mit großen und denen mit kleinen Bäuchen".
Balram, der Erzähler, der zu Beginn der Geschichte nicht einmal einen Namen hat - es hatte einfach nie jemand Zeit, über einen nachzudenken - ist einer mit kleinem Bauch. Als Sohn einer früh verstorbenen Muter und eines tuberkulösen Rikschafahrers schafft er es immerhin, lesen und schreiben zu lernen. Das war es dann. Kurz nachdem dem talentierten Jungen ein Stipendium versprochen wird, holt sein Bruder ihn von der Schule: zum Kohlenknacken. Irgendwie muss die Mitgift für die Hochzeit der Schwester zusammen kommen. Weil er ein helles Kerlchen ist, gelingt es ihm, Autofahren zu lernen. Als er sich von Tür zu Tür als Fahrer andient, hat er Glück und wird von einem just aus den USA zurückgekehrten Ehepaar angestellt: von Herrn Ashok und seine Frau, Pinky Madam. Während Pinky Madam den Jungen aus der Finsternis an besseren Tagen missachtet und an schlimmeren demütigt und beleidigt, entwickelt sich zwischen Balram und seinem Chef, zwischen "Diener und Herr", beinahe ein menschliches Verhältnis.
Es nützt Balram nichts. Wenig später stellt sich heraus, dass sein freundlicher Herr ihn anstelle seiner Frau für immer hinter Gittern verschwinden lassen würde: das falsche Geständnis ist bereits geschrieben, Balrams Familie informiert. Das, schreibt Balram, sei ganz normal, "die Gefängnisse Delhis sind voll mit Fahrern (...). Wir sind den Dörfern entronnen, aber wir gehören immer noch unseren Herren - unser Körper, unsere Seele, unser Arsch." Und: "Wir leben hier in der großartigsten Demokratie. What a fucking joke!" Irgendwer, sollte man meinen, könnte diese Spielchen ja durchschauen - der Richter zum Beispiel. Der Leser des "Weißen Tiger" glaubt allerdings an dieser Stelle daran schon nicht mehr: käuflich, das hat man bereits gelernt, ist auf dem Subkontinent alles und jeder.
Balram, der eine große Beobachtungsgabe, eine freche Schnauze und einen beachtlichen Hang zum Zynismus hat, weiß es natürlich auch. Nachdem er es geschafft hat, auf die Seite derer zu wechseln, die fressen statt gefressen zu werden, geht es ihm richtig gut. Und, ganz ehrlich: Man gönnt es der zwielichtigen Figur. Und ihrem Erfinder die internationale Aufmerksamkeit.
Der weiße Tiger. Roman.
Verlag C.H. Beck, München 2008; 320 S., 19,90 ¤