OSTMITTELEUROPA
Ruth Leiserowitz präsentiert ein »Mosaik der Minderheiten«
Auf den ersten Blick haben Roman Morosli und Friedrich Kneifel nicht viel gemeinsam. Morosli ist ein 25-jähriger Großstädter, agil und geschäftstüchtig, auf den Straßen der lettischen Hauptstadt Riga und in seiner Familie ist er von Menschen umgeben, die seine Muttersprache Russisch sprechen. Kneifel wurde vor 94 Jahren geboren, lebt in einer abgelegenen Berghütte im böhmischen Riesengebirge und hat sein ganzes Leben als Holzfäller gearbeitet. Seine Muttersprache, Deutsch, kann er nicht einmal mehr mit seinen Enkeln sprechen.
Und doch teilen Roman Morosli und Friedrich Kneifel ein gemeinsamen Schicksal: Sie sind beide Angehörige von Minderheiten in Ost- oder Mitteleuropa. Was sie verbindet, ist der Kampf um die eigene Identität: das Schwanken zwischen Stolz auf das ihnen Eigentümliche und dem Wunsch nach Anpassung, um den Vorurteilen oder Diskriminierungen der Mehrheitsgesellschaft zu entkommen.
Denn als am Ende des Ersten Weltkrieges die Vielvölkerreiche der Osmanen, der Habsburger und des russischen Zaren zerbrachen, wurde auch in Ost- und Mitteleuropa der sprachlich, kulturell und religiös homogene Nationalstaat zum Ideal erhoben. Der Realität entsprach diese Vorstellung nicht: Es gab kaum ein Land, das innerhalb seiner Grenzen nicht große Minderheiten beherbergte. Trotz eines Jahrhunderts der Völkermorde, Vertreibungen und Diskriminierung prägen diese Gruppen noch die neuen EU-Mitgliedstaaten von Estland bis Bulgarien. Das zu zeigen, ist das Ziel des Sammelbandes "Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Osteuropa", das von der Historikerin Ruth Leiserowitz herausgegeben wurde.
Durch den Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen seien Ost- und Mitteleuropa "weitaus tiefgehender beschädigt und verändert" worden, als "gemeinhin angenommen wird", schreibt Leiserowitz in der Einleitung: In den von Deutschen besetzten Gebieten wurden die meisten Juden ermordet. Mit ihnen erstarb das blühende jüdische Leben, das Städte wie Vilnius, Krakau oder Prag geprägt hatte. Nach dem Krieg wurden große Teile der deutschen Minderheit, die oft seit Jahrhunderten in der Region gelebt hatten und ihr ihren Stempel aufgedrückt hatten, nach Sibirien deportiert oder vertrieben. Zur Geschichte von Flucht und Vertreibung, aber auch über die verbliebenen Deutschen in der Region, sind in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erschienen. Auch die Geschichte der jüdischen Gemeinden ist relativ gut erforscht. Von den Seto, einer orthodoxen Minderheit, deren Trachten von üppigem Silberschmuck geprägt sind und deren Heimatregion Setomaa heute zwischen Estland und Russland geteilt ist, dürften allerdings die wenigsten bislang etwas gehört haben.
Auch eher unbekannte Minderheiten wie die Seto werden in einer der elf Reportagen des Sammelbandes vorgestellt, die in winzige Dörfer, geschäftige Großstädte und in die Baracken einer Romasiedlung führen. Die Autoren des Bandes sind keine Historiker, sondern Journalisten, die sich über die Erzählungen einer ausgewählten Familie dem Schicksal der jeweiligen Minderheit nähern.
In manchen Reportagen, wie der von Roland Stork über die russische Minderheit in Lettland, führt diese Herangehensweise zu spannenden Erkenntnissen: Das Beispiel Roman Moroslis zeigt, dass nicht alle Minderheiten vom Verlust von Sprache und Identität bedroht sind: In Städten wie Riga bildet die russische Gemeinde sogar die Mehrheit, hier ist es eher das "Staatsvolk" der Letten, das um die Kommunikation in ihrer Muttersprache kämpfen muss. Unproblematisch ist die Lage von Morosli und seiner Familie trotzdem nicht: Einen lettischen Pass würde er nur nach aufwendigen Sprach- und Landeskundeprüfungen erhalten. Solange er diese nicht ablegt, steht "Alien", Fremder, in seinem Pass.
Durch ihre Subjektivität bleiben manche Reportagen allerdings einseitig. Ein Drittel der lettischen Bevölkerung wurde während der sowjetischen Okkupation deportiert, viele von ihnen empfinden die Präsenz der russischen Minderheit als Erinnerung an die Besatzungszeit: Ohne eine solche Einordnung entsteht kein vollständiges Bild - trotz der faktenreichen Zusammenstellungen, die ergänzend zu den Reportagen einen Überblick über Minderheiten und rechtliche Regelungen in jedem Land bieten. Manche Autoren pflegen außerdem einen unvorsichtigen Umgang mit Klischees und Gerüchten: Mag ja sein, dass die Mitglieder der Seto als clever gelten. Dies allerdings mit dem Sprichwort "Der Jude hat geweint, als der Seto geboren wurde" zu demonstrieren, wirkt eher unbedacht. Und die Behauptung, in ungarischen Kirchen hänge neben dem Alter immer eine Nationalflagge, ist falsch. Wo es um den Vorwurf der Diskriminerung geht, hätte man persönliche Erfahrungen teilweise stärker mit staatlichen Regelungen kontrastieren können. Einen vielfältigen Eindruck der auch heute noch durch ihre Minderheiten geprägte Region Ost- und Mitteleuropa vermittelt der Band aber allemal.
Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Osteuropa.
Ch. Links Verlag, Berlin 2009; 285 S., 19,90 ¤