IRAK
Sechs Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins blüht in Nadjaf der religiöse Fundamentalismus
Das alte Klischee von Nadjaf wird auf den ersten Blick bestätigt. Die ganze Stadt ist ein einziger Friedhof. Schon Kilometer vor der Straße zur heiligsten Stätte der Schiiten sieht man Gräber über Gräber. Hier und da ist eine Kerze in eine Grabsteinritze gesteckt oder es glimmt ein Räucherstäbchen. "Die Leute sagen, das soll den Toten einen angenehmen Geruch im Jenseits bescheren", erklärt Mustafa Khalil die Tradition. Wenn Angehörige das Grab ihrer Verstorbenen besuchen wollen, hilft Khalil, die Ruhestätte zu finden, liest Verse aus dem Koran vor und spendet Trost.
Nadjaf liegt mitten in der Wüste Iraks, staubig, trocken, mit Sandstürmen, die zu dieser Jahreszeit alles in beigefarbene Töne hüllen. Seitdem Imam Ali, der Begründer des schiitischen Glaubens und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, in Nadjaf begraben wurde, wollen die Gläubigen ihm auch im Tode möglichst nahe sein. So erlebt Nadjaf einen Totentourismus gigantischen Ausmaßes. Fast täglich werden Särge aus allen Himmelsrichtungen in die irakische Stadt 120 Kilometer südlich von Bagdad transportiert. Für zwischen 100 und 700 Dollar wird der Leichnam in Tücher gewickelt und begraben. "Nach unserem Glauben kommt der Mahdi (der von den Muslimen erwartete Welt- und Glaubenserneuerer, Anm. d. Red.) zusammen mit Jesus am Ende aller Tage als Erlöser und das Jüngste Gericht fängt hier an dieser Stelle an", sagt Mustafa Khalil und deutet auf den Friedhof.
Gouverneur Assad Sultan Abu Gelal sagt, er wolle weg von dem Totenimage von Nadjaf. Deshalb würde der Platz vor dem Mausoleum des Religionsgründers für Pilger vergrößert, würden Hotels, Restaurants und Geschäfte gebaut: "Es muss Leben in die Stadt." Dem Friedhof werde keine Erweiterung Richtung Innenstadt mehr eingeräumt, im Stadtzentrum solle die Gegenwart stattfinden. Und die ist in Nadjaf so erstaunlich wie überall im Irak, sechs Jahre nach dem Einmarsch von amerikanischen und britischen Truppen am 20. März 2003. Eine kontinuierlich anschwellende Welle schiitischer Pilger schwappt seitdem über die knapp eine Million Einwohner zählende heilige Stätte, Gouverneur Abu Gelal will in den vergangenen Monaten bis zu 3.000 Besucher täglich gezählt haben. Die meisten kommen aus dem Iran.
Seit dem Krieg zwischen dem Irak und dem östlichen Nachbarn in den 80er Jahren hatte Saddam Hussein die Grenzen für Schiiten aus dem Iran geschlossen und ihre religiösen Heiligtümer Nadjaf, Kerbela und Kufa weitgehend unter Verschluss gehalten. Sein Sturz brachte nicht nur den irakischen Schiiten die Freiheit, ihre Religion ungehindert auszuüben, sondern auch Zugang für Schiiten aus anderen Ländern. Nadjaf hat ein neues Klischee bekommen: vergeistigte Pilger, die um den reichlich mit Gold verzierten Sarg der Gebeine ihres Imam Ali kreisen, und schwarz verhüllte Frauen, die wie Zelte anmuten. Annähernd drei Kilo wiegt der weite Umhang, der wie eine Haube über den Kopf gestülpt wird und bis zum Boden reicht, ein absolutes Muss für jeden weiblichen Besucher, der seinen Fuß auf Nadjafs Boden setzt. Mit den Untertanen der Ajatollahs aus dem Iran kam auch der religiöse Fundamentalismus. Obwohl die Menschen hier schon immer konservativer gewesen seien als anderswo im Irak, hätten die religiösen Eiferer gerade in Nadjaf die meiste Unterstützung gefunden, sagt Saad Fakhrildeen, der für die unabhängige irakische Nachrichtenagentur Aswat al-Iraq in Nadjaf arbeitet.
Ironie der Geschichte: Vor 30 Jahren hatten die USA Saddam Hussein stark gemacht, um am Golf ein Bollwerk gegen den iranischen Gottesstaat Ajatollah Khomeinis zu schaffen. Der achtjährige blutige Krieg zwischen den beiden Nachbarn kostete mehr als eine Million Menschen das Leben. Zuvor hatte der irakische Diktator den 1965 nach Nadjaf geflohenen Khomeini aus dem Irak verwiesen. Der fand in Frankreich Zuflucht und kehrte von dort triumphal nach Teheran zurück. 25 Jahre später wurde Saddam selbst von den Amerikanern aus dem Amt gejagt. Sie besetzten den Irak und versuchen seitdem, die Demokratie im Zweistromland einzuführen.
Doch erst jetzt, so scheint es, müssen sie den Einfluss von Khomeinis Erben wirklich fürchten. Mit Mehrheit wählten die Iraker bei den ersten freien Parlamentswahlen 2005 die Schiitenallianz, jenen Zusammenschluss von acht religiösen Parteien, die seitdem die politischen Geschicke des Landes bestimmt. Der Hohe Islamische Rat (SIIC), neben der Dawa-Partei von Premier Nuri al-Maliki die größte Gruppierung der Allianz, wurde von Exilirakern in Teheran gegründet. Der Iran sitzt also mit am Kabinettstisch im Irak.
Bei den Regionalwahlen Ende Januar diesen Jahres stimmten allerdings viele Wähler in den 14 Provinzen gegen religiöse Parteien. Nur in Nadjaf haben sie auch dieses Mal wieder entgegen allen Vorhersagen und Trends ihre Stimme für sie abgegeben. Anders als in Bagdad, wo sich Premier Al-Maliki betont säkular gibt und sich großflächig mit Kindern, Stammesführern oder ausländischen Politikern plakatieren ließ, zeigten ihn die Wahlplakate in Nadjaf am Schrein von Imam Ali. Dem amtlichen Endergebnis zufolge werden er und seine Dawa-Partei künftig 7 Stühle im 28 Sitze zählenden Provinzparlament von Nadjaf belegen, gleichauf mit dem SIIC, dem der amtierende Gouverneur angehört. Weitere sechs Sitze konnten die Anhänger von Schiitenführer Moktada al-Sadr erringen, dem jungen Rebellen mit den wütenden braunen Augen, der im Sommer 2004 für Aufruhr in der heiligen Stadt sorgte und den offenen Konflikt mit dem damaligen Interimspremier Ijad Allawi in Bagdad probte. Erst durch Intervention des im Iran geborenen Großajatollahs Ali al-Sistani, der in Nadjaf residiert, wurde Sadr zur Aufgabe der Kämpfe überredet. Mittlerweile ist das Engagement Moktadas in Nadjaf schon Geschichte geworden. In dem Büro, wo damals die Sprecher des Aufrührers die Einnahme der heiligen Stadt verkündeten, ist jetzt ein Museum eingerichtet mit Gegenständen seines 1999 von Saddam Hussein ermordeten Vaters, Ajatollah Mohammed Sadiq al-Sadr.
Der Verbleib des Sohnes ist unklar. Einer seiner Anhänger flüstert geheimnisvoll in die Ohren der ausländischen Journalistin, dass Moktada im Iran sei, dort zum Großajatollah ausgebildet werde und eines Tages wie Khomeini die islamische Revolution in den Irak tragen werde.
Doch solange Sistani lebt, wird dies wohl kaum geschehen. Wie kein anderer zieht der einflussreiche Schiitenführer die politischen Fäden im Hintergrund. Fast alle Regierungsmitglieder und viele Parlamentarierer haben sich schon politischen Rat beim Großajatollah geholt, auch Premier Al-Maliki hat den 79-jährigen Greis schon vier Mal besucht. Zu den Provinzwahlen hatte Sistani keine Empfehlung abgegeben, lediglich zur Stimmabgabe aufgerufen. Doch anders als die Ajatollahs im Iran will Sistani im Irak nicht Politik und Religion vermischt sehen. Turbanträger hätten in der Regierung nichts zu suchen, soll er einmal gesagt haben.
Das Arbeitszimmer des Schiitenführers liegt unscheinbar in einer schmalen Seitengasse in Sichtweite der goldenen Kuppel des Mausoleums. Sicherheitskräfte überwachen die Schranke. Auch die FDP-Abgeordnete Elke Hoff wurde Ende Februar bei ihrem Besuch in Nadjaf nicht vorgelassen. Hoff war die erste Bundestagsabgeordnete, die im vergangenen Jahr in der Post-Saddam-Ära in den Irak reiste. In diesem Jahr hat sie in Nadjaf geistliche Würdenträger der "Hausa", der schiitischen Religionsakademie, treffen können.
"Die ganze Widersprüchlichkeit in der aktuellen Entwicklung im Irak kann ich jetzt am konkreten Beispiel nachvollziehen", sagt sie tief beeindruckt beim Mittagessen mit dem Gouverneur. Mit Abu Gelal kann sie lockerer reden; er hat lange im Exil in Finnland gelebt, nachdem Saddam Hussein ihn, wie viele andere Schiiten, ins Gefängnis gesteckt hatte.
"Besonders beeindruckt hat mich der Gegensatz in den Gesprächen mit Ajatollahs einerseits und den riesengroßen Investitionsplänen und Modernisierungsträumen des Gouverneurs und seiner Mitarbeiter andererseits", sagt Elke Hoff nach ihrem Besuch in der Schiitenhochburg - "ein brandneuer Flugplatz und die mittelalterlich anmutende Verehrung der religiösen Führer, die Projektbeschreibungen von Fünf-Sterne-Hotels und die seit Jahrhunderten wohl wortgetreu wiedergegebene Überlieferung des Lebens und Leidens der schiitischen Imame, die weitschweifige Beschreibung all ihrer Großtaten und menschlichen Vorzüge, als seien sie erst gestern verschieden."
Natürlich nutzte der Gouverneur die Anwesenheit der Parlamentarierin auch, um für Investitionen und wirtschaftliches Engagement von deutschen Firmen in seiner Stadt zu werben. Deutsche sind hier, wie überall im Irak, äußerst gefragt. Man habe bereits einen Vertrag mit einem Unternehmen unterzeichnet, informiert der Vorsitzende der "Nadjaf Investment Kommission", Fadhal al-Fadhal: "Die Deutschen werden ein 400-Betten-Krankenhaus errichten." Außerdem wolle man deutsches Umwelt-Know-How für die Müllbeseitigung und die Abwasserbehandlung gewinnen.
Als Handikap für ein verstärktes Engagement im Irak führt Elke Hoff die zwar verbesserte, aber noch immer zerbrechliche Sicherheitslage an. Nadjaf ist sicherer als andere Provinzen im Irak und war eine der ersten, die von den US-Truppen an die Iraker übergeben wurde; der letzte Anschlag liegt zwei Jahre zurück. Allerdings war Nadjaf auch die erste Stadt, die gleich im Sommer 2003 unter dem beginnenden Terror litt. Damals wurden mehr als 120 Menschen getötet, unter ihnen der als gemäßigt geltende Ajatollah Muhammad Bakir al-Hakim, der kurz zuvor aus dem iranischen Exil in den Irak zurückgekehrt war.
Der nagelneue Flughafen soll nun die Sicherheitsprobleme lösen helfen und die Anreise unproblematischer und ungefährlicher gestalten. Denn die Straße von Bagdad nach Nadjaf führt durch das berüchtigte Dreieck des Todes, das besonders in den Jahren 2006 und 2007 fast täglich durch Bombenanschläge, Entführungen und religiöse Morde in den Schlagzeilen war. Auch in den letzten Wochen kam es dort wieder vermehrt zu Anschlägen um die Stadt Iskanderija, die auf halber Strecke nach Bagdad liegt. Jetzt bietet der "Nadjaf International Airport" täglich Flüge nach Dubai und Teheran an.