Werner Marnette
Der ehemalige Affinerie-Chef über Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit, Preise und Perspektiven
Herr Marnette, als Chef der früheren Norddeutschen Affinerie haben Sie sich in der Stromwirtschaft keine Freunde gemacht. Sie waren einer der schärfsten Kritiker der Energiekonzerne wie auch der Energiepolitik. Dann der kurze Ausflug in die Politik als Wirtschaftsminister nach Schleswig-Holstein. Sind Sie damit zu einem Diplomaten geworden?
Nein. Meine Generalkritik an dem gesamten Thema Energie bleibt bestehen. Wir haben über Jahre gegen die Grundprinzipien verstoßen: Es muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit der Preise und der Ökologie. Viele Jahre lang wurde aber nur in ökologischen Kategorien gedacht, und die Preisseite wie auch die Versorgungssicherheit wurden vernachlässigt. Alle drei Aspekte sind aber wichtig und müssen berücksichtigt werden.
Und wo liegt jetzt das Dilemma?
Beim Strom laufen wir in eine Versorgungslücke von 40.000 bis 50.000 Megawatt hinein. Diese Lücke werden wir durch mehr Effizienz und Einsparungen nicht kompensieren können. Das bedeutet: Wir brauchen neue Kraftwerke. Und dann geht das los: Wir wollen aus der Kernenergie aussteigen und brauchen dafür neue Kohlekraftwerke. Aber dafür gibt es in der Bevölkerung und in der Politik keine Akzeptanz. Es gibt aber auch keine politische Akzeptanz für eine längere Laufzeit der Kernenergie.
Nehmen wir als Beispiel Schleswig-Holstein. Gibt es dort einen Weg, aus dem Dilemma zu kommen?
Schleswig-Holstein baut auf Windkraft als Leitenergie. Heute stehen etwa 2.500 Megawatt Kapazität zur Verfügung, und mit Repowering, also mit dem Ersatz kleiner durch größere, stärkere Windräder, lässt sich das noch ausbauen. Das ist eine Perspektive, aber wir dürfen uns nichts vormachen: Das wird nämlich nicht reichen. Ein Jahr hat 8.760 Stunden, aber die Volllaststundenzahl, die heute im Mittel bei etwa 2.000 Stunden liegt, lässt sich durch das Repowering maximal auf 4.000 Stunden anheben. Damit haben wir dann also immer noch eine Lücke von 4.000 Stunden, in denen die Windkraft nicht zur Verfügung steht. Das muss durch Grundlast kompensiert werden - also werden neue Kraftwerke gebraucht. In Brunsbüttel wird versucht, ein neues Kohlekraftwerk zu bauen. Doch dagegen wird vor Ort getobt. Kiel braucht eigentlich dringend eines, aber das scheitert an der politischen Akzeptanz.
Unter Umweltaspekten ist der Widerstand gegen Kohle verständlich. Mehr Kohlekraftwerke bedeuten mehr CO2-Emissionen. Wo bleibt der Klimaschutz?
Natürlich auf der Strecke. Deshalb setze ich auf die Erneuerbaren Energien, also die Windkraft, und auf eine Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke. Für mich ist die Kernkraft die wertvollste Energieform. Und ich hoffe, dass irgendwann auch in Deutschland mal die Einsicht kommt und wir wieder in sichere Kernenergie investieren können. Dennoch bleibt eine Lücke, die nur mit Kohle geschlossen werden kann
Bei neuen Kohlekraftwerken soll CO2 abgetrennt und in unterirdischen Speichern gelagert werden. Warum waren Sie dagegen, dass der RWE-Konzern Kohlendioxid nach Schleswig-Holstein transportiert und dort unter die Erde bringt?
Ich bin nicht generell dagegen, aber man darf das nicht überstürzen. Die CCS-Technologie, also das Verpressen und Binden des CO2 tief in der Erde, ist eine gute Option, aber noch lange nicht erprobt. Im Moment weckt es noch Urängste bei den Menschen. Wenn man also eine solche Verpressung plant, dann sollten die Leute, unter deren Füßen es geschieht, auch etwas davon haben. Zum Beispiel müssten in Schleswig-Holsteindie Kohlekraftwerke des Bundeslandes bevorzugt werden, und nicht die weitentfernten Kraftwerke des RWE-Konzerns in Nordrhein-Westfalen.
Atomausstieg, Widerstand gegen die Kohle: Es gibt eine Reihe von Experten, die im Erdgas die Lösung sehen.
Das sind doch Utopisten! Bei Erdgas haben wir diese enorme Abhängigkeit. Das Erdgas stammt genau aus den politisch kritischsten Gebieten der Welt. Wenn wir uns von den Ländern abhängig machen, dann haben wir die Preise überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Wenn die Russen uns den Hahn abdrehen, ist hier nichts mehr mit Gas. Deshalb plädiere ich für einen gesunden Mix aus Wind, Kohle und Kernenergie. Und wenn die Kernenergie weiterläuft, dann müssen die wirtschaftlichen Benefits der alten Kraftwerke, die in ihrem sogenannten "goldenen Ende" arbeiten, weitergegeben werden an die Stromkunden.
Neue Kernkraftwerke wären aber nur möglich mit einer neuen Regierung...
In Schleswig-Holstein ginge in dieser Frage sowieso nichts ohne Regierungswechsel. Das Thema längerer Laufzeiten ist ja im Koalitionsvertrag ausgeklammert worden und kann erst wieder aufgegriffen werden, wenn es eine neue Koalition gibt, zum Beispiel zwischen Schwarz und Gelb. Und auf Bun-desebene sieht das genauso aus.
Dem Offshore-Wind kommt bei der künftigen Energieversorgung eine tragende Rolle zu: Die Erneuerbaren Energien sollen bis zum Jahr 2020 mindestens ein Viertel des Stromverbrauchs decken, dabei soll die Windkraft allein für zwölf Prozent stehen, was aber nur mit Hilfe der Offshore-Parks zu schaffen ist. Wie stehen die Chancen, dass der Strom vom Meer die hohen Erwartungen erfüllt?
Schlecht. Wir sind noch nicht so weit. Erstens gibt es noch viele technologische Probleme zu lösen. Die Offshore-Windparks müssen wegen des geschützten Wattenmeers bis zu 50 Kilometer weit draußen vor der Küste stehen. Das Wasser ist dort 40 Meter tief. Für solche Verhältnisse gibt es noch keine Erfahrungswerte. Das ist Neuland für die Branche. Wir kennen noch nicht einmal die baulichen Erfordernisse, die in der starken Brandung und dem tiefen Nordseewasser auf uns zukommen. Und wenn die Windräder dann laufen, setzt der salzhaltige Wind dem Material und der Technik zu, und der Service und die Logistik stellen die Betreiber ebenfalls vor Riesenprobleme. Ich fand es deshalb auch unverantwortlich, dass hier fast jeden Monat neue Windparks angekündigt wurden. Doch das größte Thema ist: Für den Offshore-Wind brauchen wir neue Leitungssysteme. Es nützt doch nichts, wenn wir die Energie nur an die Küste bringen. Der Strom muss dann auch verteilt werden. Das ist heute noch ein großes Problem: Wenn wir starke Winde haben, dann glühen fast die Netze, sie werden instabil, weil die Kompensation nicht funktioniert. Und noch etwas wird gerne vernachlässigt: Für jedes Windrad braucht man ein Schattenkraftwerk als Backup-System.
Die Netze sind Sache der Stromkonzerne. Geht es dort mit dem Ausbau schnell genug voran?
Früher waren die Netze Geldmaschinen, aber das ist heute nicht mehr so. Deshalb haben die Konzerne nicht mehr so viel Freude an den Netzen. Jetzt wollen sie sie verkaufen, am liebsten an den Staat, weil erhebliche Investitionen auf sie zukommen. Wir brauchen in Deutschland 500 bis 600 Kilometer neue Netze. Das alles über Erdkabel zu machen, ist wirtschaftlich nicht darstellbar. Und bei so vielen Oberleitungen würde den Bürgern wohl zu Recht ein Schauer über den Rücken laufen. Dann gibt es auch noch Länder wie Niedersachsen, die Erdkabel vorschreiben. Deshalb: Bei der Vielfalt der ungelösten Probleme gehe ich davon aus, dass sich das ganze Thema Offshore-Wind noch um einige Jahre verzögern wird. Es geht doch nur, wenn die Netze auch da sind.
Das Interview führte Meite Thiede. Sie ist Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung" in Hamburg.