100 TAGE OBAMA
Bisher hat der neue US-Präsident vor allem das Ausland überzeugt. Im Inland bleiben Reformen noch aus
Sind es wirklich erst einhundert Tage? Barack Obama hat bereits drei Auslandsreisen absolviert -Kanada, Europa (verbunden mit einem Abstecher in den Irak) und Lateinamerika - und an vier internationalen Gipfeln teilgenommen. Er hat in unzähligen Bereichen die Politik seines Vorgängers George W. Bush zu korrigieren begonnen, von Irak und Afghanistan über Guantánamo und die Besteuerung bis zum Klimawandel und der Kontrolle internationaler Finanzkonzerne. Derweil hielt die First Family Amerika und die Welt über Wochen mit der Auswahl eines Hundes und dem Anlegen eines Gemüsegartens vor dem Weißen Haus in Atem. In gefühlter Zeit ist der neue Präsident länger im Amt als die rechnerischen einhundert Tage.
Andererseits sind die zählbaren Resultate, an denen man gewöhnlich Regierungshandeln bemisst, noch mager. Obama hat viele Reden gehalten und so die Atmosphäre im Land verändert - sowie die Art, wie die Welt auf Amerika blickt. Größere Gesetzgebungserfolge sucht man jedoch vergebens. Seine Regierungsmannschaft ist noch lückenhaft. Dem Finanzminister zum Beispiel fehlen ein Stellvertreter und Staatssekretäre, die er doch gerade in der Krise dringend bräuchte. Wichtige Partner wie Deutschland müssen wohl noch Wochen darauf warten, wer US-Botschafter in ihrer Hauptstadt wird.
Wie könnte es auch anders sein? Weltweit nennt man den US-Präsidenten gerne den mächtigsten Mann der Erde. Aber im amerikanischen Verfassungsalltag ist seine Macht dann doch ziemlich begrenzt. Vor allem der Kongress hat ein wichtiges Wort mitzureden.
Eine erste Bilanz fällt differenziert aus, je nachdem, ob man die einhundert Tage aus der Binnenperspektive der USA betrachtet oder aus dem Blickwinkel des Auslands. Amerika kennt seit Monaten nur ein Thema: die tiefe Finanz- und Wirtschaftskrise samt ihrer Folgen für den Immobilienmarkt und damit die Dächer über den Köpfen der 300 Millionen Bürger, für die Arbeitsplätze und die Kreditwürdigkeit.
Das Ausland misst Obama an anderen Maßstäben: an den Anordnungen, Guantanamo zu schließen, Folter bedingungslos zu verbieten und die CIA-Geheimgefängnisse aufzugeben; an seiner Politik gegenüber der islamischen Welt und speziell Iran; am Umgangston mit Europa. Diese Fragen haben außerhalb der USA hohe symbolische Bedeutung - im Inland finden sie angesichts der ökonomischen Krise wenig Beachtung.
Amerikas Prioritäten spiegeln sich im Terminplan des Präsidenten. Er konzentriert sich auf die Wirtschaftspolitik. Die zwei zentralen Gesetzesinitiativen der einhundert Tage waren das Konjunkturpaket im Wert von rund 800 Milliarden Dollar und der Budgetentwurf für den US-Haushalt. Nach anfänglichem Widerstand der Republikaner passierte das Konjunkturgesetz den Kongress. Der Haushaltsplan steckt im Vermittlungsverfahren, nachdem Abgeordnetenhaus und Senat unterschiedliche Versionen verabschiedet haben.
Beide Projekte zeigen: Obama versteht sich als Verwandler, nicht als Verwalter der Lage. Er ist bereit, Risiken einzugehen. Er nimmt sehr viel Geld in die Hand, um die USA durch öffentliche Investitionen aus der Krise heraus zu kaufen. Manchen machen diese Summen und die wachsende Staatsverschuldung Angst. Obamas Berater berufen sich auf die historische Erfahrung: Sie wollen eine langanhaltende Depression wie in den 1930er Jahren verhindern. Damals habe der Staat zu wenig getan, um die Konjunktur anzukurbeln. Amerika hat andere Traumata als Deutschland: In den USA ist es die ein Jahrzehnt währende Depression nach dem Börsencrash von 1929, in Deutschland die Hyperinflation in den Jahren zuvor.
Hoffen müssen alle, dass Obama Erfolg hat. Denn wenn Amerika so viele Schulden aufhäuft, aber das Wachstum ausbleibt, das nötig wäre, um sie wieder abzutragen, kommt die Inflation zur Flaute hinzu - und die übrige Welt wird es mit ausbaden müssen.
Das Verhältnis zum Parlament ist wohl der Bereich, wo Obama den härtesten Realitätsschock erlebt. Im Wahlkampf hatte er eine neue politische Kultur versprochen. Er werde die Parteispaltung zwischen Demokraten und Republikanern überwinden, die gemeinhin als Hauptursache für die politische Blockade und das Ausbleiben überfälliger Reformen verstanden wird. Er wollte das gute Verhältnis zu moderaten Konservativen nutzen, das er in seinen vier Jahren als Senator gepflegt hatte. Die Republikaner setzten freilich bald auf Fundamentalopposition. Sie möchten sich mit Blick auf kommende Wahlen als Alternative präsentieren, nicht als Obamas Erfüllungsgehilfen. Zugleich behinderten die Demokraten im Kongress seine Bemühungen, Konservative an Bord zu holen. Sie veränderten seinen Entwurf des Konjunkturpakets in einer Weise, die den Republikanern Vorwände bot, dagegen zu stimmen.
Obama kann auch nicht einfach auf die Mehrheit der Demokraten in beiden Kammern des Kongresses setzen und die Republikaner ignorieren. Denn diese Mehrheit ist kein so verlässlicher Rückhalt, wie man aus deutscher Sicht meinen könnte. Fraktionsdisziplin ist in den USA nicht üblich. Viele denken bereits an die Zwischenwahl im November 2010, in der alle Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren neu bestimmt werden. Die Flügel seiner Partei haben nahezu gegensätzliche Wünsche an Obama. Demokraten aus progressiven Gegenden in Neuengland oder an der Westküste fordern eine konsequentere Wende. Den Parteifreunden aus wertkonservativen Staaten im Süden und Mittleren Westen gehen schon manche der bisherigen Änderungen mit Blick auf ihre Wähler zu weit. Im Senat liegen die Demokraten zudem knapp unter den 60 von 100 Mandaten, die nötig wären, um ein Blockadeinstrument, den sogenannten "Filibuster", zu überstimmen.
Darauf muss Obama Rücksicht nehmen -ein Grund, warum er das Wende-Tempo drosselt. Der andere: Ihm sind Fehler unterlaufen, die man mit Sorgfalt und Geduld hätte vermeiden können. Im Vergleich zu seinen Vorgängern hat er einen beispiellos schnellen Start hingelegt - von der Berufung seines Regierungspersonals bis zur Vorlage seines ersten Budgets. Gewöhnlich vergehen Monate, bis eine neue US-Regierung so richtig handlungsfähig ist, weil alle Minister, Behörden- und Abteilungsleiter vom Senat bestätigt werden müssen.
Die ersten sieben Kabinettsmitglieder Obamas waren aber bereits am Tag nach der Inauguration im Amt. Zunächst behielt er das ungewöhnliche Tempo auch bei der Benennung weiteren Personals und der Vorlage des ersten Budgets bei. Schnelligkeit bedeutet jedoch nicht automatisch Erfolg. Als drei Anwärter über kleinere Steuervergehen stolperten, wurde Obama vorsichtiger.
Das Ausland lernt derweil: Er ist kein linker Gegenentwurf zu Bush. Der neue Präsident positioniert sich in der Mitte des politischen Spektrums Amerikas - und das liegt rechts der politischen Mitte in Deutschland. Er will vieles anders machen als Bush, aber bei den Interessen und der Sicherheit Amerikas macht er keine Kompromisse. Er lässt Guantánamo schließen und versichert ohne jede Einschränkung: Amerika foltert nicht. Doch im Fall der Terrorgefangenen, die im Gefängnis Bagram in Afghanistan sitzen, greift seine Regierung zu denselben Ausflüchten, mit denen Bush den Guantánamo-Insassen juristische Einspruchsmöglichkeiten verweigerte: Bagram liege außerhalb der USA, also seien US-Gerichte dort nicht zuständig. Ähnlich wie Bush beruft er sich auf das sogenannte "executive privilege", um zu verhindern, dass Gerichte Foltervorwürfe aus der Bush-Zeit, die Abhörpraxis und andere fragwürdige Methoden der Terrorabwehr untersuchen. Dadurch würden Staatsgeheimnisse und damit die Sicherheit des Landes gefährdet, heißt es.
Der Pentagon-Etat wird auch unter Obama weiter wachsen und ist bereits jetzt größer als die Verteidigungsbudgets aller folgenden 25 Länder zusammengenommen. Solche Erfahrungen haben kritische Kommentare provoziert: Ist der neue Präsident ein "George W. Obama"? Seine Außenpolitik liegt näher an den Vorstellungen der Europäer als Bushs. Er ist zu direkten Gesprächen mit Iran bereit, lockert die Sanktionen gegen Kuba, will mehr für den Nahostfrieden tun und setzt in Afghanistan auf eine neue Strategie mit höherem Gewicht für den zivilen Aufbau. In die Raketenabwehr oder die Nato-Erweiterung um Georgien und die Ukraine wird er nicht viel investieren. Stoppen wird er sie auch nicht, damit es nicht so aussieht, als weiche er vor Russland zurück.
Auch Obamas neue Rezeptur beinhaltet Risiken und Nebenwirkungen. Der wahre Test kommt erst noch. Führt sie zu Fortschritten - im Atomstreit mit Teheran, bei der Aufweichung der kubanischen Diktatur oder in Afghanistan - umso besser. Wenn nicht, wird wohl auch er wieder auf Härte setzen und erwarten, dass Europa ihm folgt. In Afghanistan reduziert er das Kriegsziel: Es sei nicht der Aufbau einer Demokratie, sondern ein Zustand, in dem Al-Qaida dort keine Terroranschläge mehr planen könne. Das ist eine Abkehr von Bushs Ideologie. Es ist aber auch weniger, als jene Deutsche wollten, die als Ziel des Bundeswehreinsatzes eine Zivilgesellschaft nannten, in der alle Mädchen die Schule besuchen dürfen. Obama droht zudem, Pakistans Souveränität zu missachten. Wenn Pakistan nicht gegen Al-Qaida und Taliban im Grenzgebiet vorgehe, werde er es tun.
Obama ist kein Konterrevolutionär, der alles korrigiert, was dem Ausland an Bush missfallen haben mag. Er vertritt US-Interessen, wie er sie versteht. In Teilbereichen kann er ganz schön unbequem für Deutschland werden.