GROSSBRITANNIEN
Die Parteien überbieten sich mit Vorschlägen zu radikalen Reformen des Parlaments
Wie dem Sumpf entkommen, in den die politische Klasse Großbritanniens infolge des Spesenskandals um Unterhaus-Abgeordnete geraten ist? Diese Frage treibt die britische Öffentlichkeit derzeit um. Trügerisch war die Hoffnung, der erzwungene Rücktritt von Michael Martin, dem Sprecher des Unterhauses, werde Volkes Zorn abklingen lassen und weitere Schritte unnötig machen. Doch der Vertrauenverlust ist so groß, dass nun alle Parteiführer in einer radikalen Reform des politischen Systems den Ausweg sehen.
Düster scheint auch Königin Elisabeth die Lage zu beurteilen. Als Staatsoberhaupt hat sich die Queen jeglicher politischer Intervention zu enthalten - sie zählt zu den "würdevollen", symbolischen Institutionen der britischen Verfassung, im Gegensatz zu Regierung und Parlament, den "effizienten" Institutionen, die Macht im Namen des Volkes ausüben. Doch gilt sie derzeit weithin als einzig unbeschädigte Institution Großbritanniens - die Nation vertraut ihr.
Um die "effizienten" Institutionen ist es dagegen miserabel bestellt. Die Regierung Gordon Browns befindet sich in einem Umfragetief, hat ihre Autorität längst verloren. Und um das Ansehen des Parlamentes steht es beinahe noch schlimmer. Die Details des oftmals schamlosen, manchmal ungesetzlichen Verhaltens der Abgeordneten, gespeichert auf einer Diskette, werden von der Zeitung Daily Telegraph in sorgfältig dosierten Häppchen nun in der dritten Woche publiziert, was die virulente antipolitische Stimmung schürt und Rowan Williams, den Erzbischof von Canterbury, Oberhaupt der anglikanischen Kirche, dazu bewog, vor "systematischer Erniedrigung" der Parlamentarier und "Unterminierung der Demokratie" zu warnen. Die Situation zwingt die Politiker zum Handeln: Eine Fülle von Ideen schwirrt im Raum herum, verbunden mit der Hoffnung, aufgebrachte Wähler besänftigen zu können. Zwischen den Parteien ist ein Wettbewerb der Ideen entbrannt.
Den Kopf vorn hat erneut David Cameron, Chef der Konservativen und wahrscheinlich nächster Premier Großbritanniens. Am 26. Mai stellte er ein Reformprogramm vor, das eine "massive Umverteilung der Macht in Großbritannien" verspricht - weg von der Exekutive, hin zum Parlament, weg von der nationalen Ebene hin zum Lokalen und zum Bürger. Die Öffentlichkeit traue den Politikern nicht, räumte Cameron ein, doch das noch größere Problem sei, dass die Politiker dem Bürger nicht trauten. Wo immer möglich, müsse "das Individuum Kontrolle über das eigene Leben ausüben", betonte er. Wo das nicht möglich wäre, seien "Straße, Nachbarschaft, Stadt und Gemeinde die geeignete Instanz". Die Konservativen wollen fortan die Möglichkeit schaffen, Referenden, ob national oder regional, zu initiieren; auch sollen "offene Primaries" nach amerikanischem Muster für Parlamentskandidaten eingeführt werden.
Die Macht der Exekutive verringern möchte Cameron, indem er als Premier auf das Privileg verzichten will, den Termin der Unterhauswahlen selbst festsetzen zu können. Auch soll der Einfluss von Parlamentsausschüssen erhöht, sollen Minister in öffentlichen Anhörungen bestätigt werden. Dezentralisierung und Offenheit lauten die Slogans des "progressiven Konservatismus" von Cameron, der mittels moderner Informationstechnologien alles "transparent" machen will: Spesen der Abgeordneten, staatliche Ausgaben, die Arbeit von Lobbyisten und den bislang oft vor der Öffentlichkeit verborgenen parlamentarischen Prozess.
Die Liberaldemokraten, die dritte Kraft im Parlament, können sich mit vielen von Camerons Ideen anfreunden, wollen aber weiter gehen: Wähler sollen das Recht erhalten, Abgeordnete "zu feuern": Fünf Prozent in einem Wahlkreis sollen eine Nachwahl erzwingen können. Zugleich will Parteichef Nick Clegg die Zahl der Abgeordneten um 150 verringern und ein modifiziertes Verhältniswahlrecht einführen. Letzteres ist ein uraltes Begehren der Liberaldemokraten. Chancen besitzt es nur, wenn eine der großen Parteien mitmachen würde.
Die tiefverwurzelte Abneigung Labours gegen die Forderung scheint zumindest schwächer zu werden, was vor allem auf ihre schlechten Wahlchancen zurückzuführen ist. Gesundheitsminister Alan Johnson, möglicher Kandidat für den Parteivorsitz nach Browns Abgang, schlägt vor, bei den Unterhauswahlen 2010 zugleich über die Änderung des Wahlrechts abstimmen zu lassen. Brown hatte vor zwei Jahren zu Beginn seiner Amtszeit bereits angekündigt, die Macht der Exekutive zu verringern und auf alte Rechte, etwa die der Ernennung von Richtern und Bischöfen, zu verzichten. Eine entsprechende Gesetzgebung durchläuft gerade das Parlament. Einig sind sich alle Parteiführer, dass schlimme Sünder nicht ins Unterhaus zurückkehren dürfen. Viele Abgeordnete kündigten bereits ihren freiwilligen Verzicht an. Im nächsten Parlament werden demnach viele neue Gesichter auftauchen.
Die Revolution, die gerade an Fahrt gewinnt, wäre ohne die Reformen Tony Blairs nicht möglich geworden. Der "Freedom of Information Act" des früheren Premiers führte erst zur Offenlegung der Spesen. Blair war es auch, der das Parlament erstmals über einen Krieg - den gegen den Irak - abstimmen ließ. Er leitete zudem die Föderalisierung des Landes ein. Manchmal beginnen Revolutionen, bevor sie überhaupt wahrgenommen werden.