Langsam steigt die Spannung: Nur noch wenige Monate sind es bis zur Bundestagswahl, für viele der 612 Abgeordneten hat der Kampf um ihren Wiedereinzug in den Bundestag bereits begonnen. Jörg-Otto Spiller zählt nicht zu ihnen. Entspannt lehnt sich der SPD-Politiker in seinem Stuhl zurück, schaut freundlich-interessiert hinter seiner großen Brille hervor. Schon vor längerem hat sich der Finanzexperte, der auf eine langjährige Karriere in der Berliner Kommunal- und Landes- sowie in der Bundespolitik zurückblickt, entschieden, bei dieser Bundestagswahl nicht mehr zu kandidieren.
Da liegt die Frage nach seiner politischen Lebensbilanz nahe. Doch Spiller, gerade 67 Jahre alt geworden, wiegelt gutgelaunt ab: "Meinen eigenen Nachruf muss ich hier doch nicht formulieren, oder?" Eine Bemerkung, die typisch ist für den studierten Politologen, der seit 1994 im Bundestag sitzt. Eigene Leistungen kommentiert er - wenn überhaupt - mit einem ordentlichen Schuss Selbstironie.
Aber nicht nur deshalb wird er seinen Fraktionskollegen nach der Wahl im September fehlen. Von 1999 bis 2008 war Spiller finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Dabei erwarb er sich den Ruf, mit seiner unaufgeregten Art für eine relativ geräuschlose und verlässliche Zusammenarbeit der Großen Koalition in finanzpolitischen Dingen zu sorgen. Dass er wie wohl die meisten Politiker das Ausmaß der Risiken, die innerhalb des Bankensektors bereitwillig eingegangen wurden, nicht rechtzeitig erkannt habe, gibt der gebürtige Berliner - der vor seinem Einstieg in die Berufspolitik mehrere Jahre in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Berliner Bank gearbeitet hat - unumwunden zu.
Jetzt kämpft er im Finanzausschuss dafür, die richtigen Konsequenzen aus der Krise zu ziehen. "Wenn es nicht weh tut, wird beim nächsten Mal alles noch schlimmer", kommentiert der Vater von zwei erwachsenen Kindern seine Auffassung, dass Spitzenmanager in Banken stärker als bislang für ihr Tun haftbar gemacht werden sollten. "Eine Krise solchen Ausmaßes kriegen Normalbürger nicht hin, das schaffen nur Profis", ist er überzeugt.
Neben der Finanzpolitik im Bundestag ist Spiller natürlich vor allem mit der Arbeit in seinem Wahlkreis Berlin-Mitte beschäftigt. Dessen Struktur ist nicht einfach, alle sozialen Schichten sind vertreten. Er umfasst neben dem Regierungsviertel und trendigen Szene-Ecken auch die von hoher Arbeitslosigkeit und Integrationsproblemen geprägten Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen. Spiller kennt sich hier aus, im Wedding ist er geboren und auf das Französische Gymnasium gegangen - übrigens zwei Klassen über Gesine Schwan, der gescheiterten SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Als Abiturient erlebte er 1961 hautnah den Bau der Mauer mit, die 28 Jahre lang seinen heutigen Wahlkreis durchschnitt. Damals konnte er nicht ahnen, dass er just zur Zeit des Mauerfalls Bezirksbürgermeister in Wedding sein würde. Von 1986 bis 1994 hatte er dieses Amt inne. Noch heute glänzen seine Augen, wenn er vom 9. November 1989 erzählt. Abends zu später Stunde habe er im Rathaus über seinen Akten gesessen, als ihn seine Frau angerufen habe: Die Mauer sei auf. Sofort machte er sich mit einem Kollegen auf den Weg zum damaligen Grenzübergang Bornholmer Straße, wo ihnen schon die Menschen entgegenströmten. "Da habe ich gesagt: ‚Lass uns doch mal rüber gehen'", erzählt Spiller. "Das haben wir dann gemacht und sind eine ganze Weile auf der anderen Seite der Mauer herumgelaufen. Das hat mich tief bewegt."
Seine lange Amtszeit als Weddinger Bürgermeister ist sicher ein Grund, weshalb der eher zurückhaltende Spiller in seinem Wahlkreis enorm bekannt ist. Jedes Mal konnte er ihn direkt mit über 40 Prozent der Erststimmen gewinnen.
Nun ist der Kampf um seine Nachfolge als Direktkandidat von Berlin-Mitte für den Bundestag voll entbrannt. Spiller selbst freut sich vor allem auf die freie Zeit, die er ab Herbst haben wird. Und lässt sich zum Schluss doch noch eine Art Resümee seines politischen Lebens entlocken: "Es ist gut gelaufen", sagt er lakonisch. Und lächelt zufrieden.