LISSABON-VERTRAG
Das Bundesverfassungsgericht hat der Europäischen Union Grenzen gesetzt, aber auch neue Wege aufgezeigt
Zwar ist es nach Urteilen des Bundesverfassungsgerichts üblich, dass sich im Kampf um die Deutungshoheit jeder irgendwie zum Sieger erklärt, und sei es auch nur, weil nun endlich "Klarheit" geschaffen sei. Die schafften die Karlsruher Richter, in dem sie entschieden, dass das deutsche Gesetz zum Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Auch beim Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes sah das Bundesverfassungsgericht keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Begleitgesetz hingegen ist nach Meinung des Zweiten Senats verfassungswidrig, weil es Bundestag und Bundesrat zu wenig Mitwirkungsrechte bei der europäischen Gesetzgebung einräumt.
Die Suche nach Verlierern fällt dieses Mal jedoch noch schwerer als sonst. Weil ja tatsächlich alle gewonnen zu haben scheinen: Mit seinem Urteil zum EU-Vertrag von Lissabon hatte das Gericht den Nationalstaat gerettet, den Bundestag gestärkt (und nebenbei auch sich selbst) - und das alles, ohne den europäischen Integrationsprozess zu stoppen. Wer wollte sollte sich da noch beschweren?
Jo Leinen tat es trotzdem. "Es hört sich so an, als ob die Verfassungsrichter allein durch die nationale Brille schauen und die neue Dimension der Demokratie auf EU-Ebene überhaupt nicht erfasst haben", klagte der SPD-Europaparlamentarier. Es sei der Eindruck entstanden, das EU-Parlament sei zweitklassig. "Das trifft nicht zu, hier hängt das Gericht 30 Jahren europäischer Integration hinterher."
Das historische Lissabon-Urteil - ein Richterspruch von vorgestern? Tatsächlich kommt das Europäische Parlament nicht sonderlich gut weg: Seine Zusammensetzung ist zu weit von dem entfernt, was deutsche Verfassungsrichter unter einer Gleichheit der Wahl verstehen, bei der jede Stimme dasselbe Gewicht haben soll. Denn kleine Staaten sind im 736-köpfigen Parlament überrepräsentiert, weil niemand weniger als sechs und keiner mehr als 96 Sitze haben darf. Also steht ein deutscher oder ein französischer Europaparlamentarier rechnerisch für insgesamt 857.000 Unionsbürger - eine Wählerzahl, die umgerechnet für zehn luxemburgische Abgeordnete reichen würde. Ein Abgeordneter aus Malta vertritt sogar nur 67.000 Bürger. Nicht gerade das, was sich Karlsruhe unter einem repräsentativ zusammengesetzten Parlament vorstellt.
In Wahrheit aber spielt das Europäische Parlament in der Argumentation des Gerichts ohnehin nur eine Nebenrolle. Denn die zentralen Aussagen des Urteils sind auf die Nationalstaaten gemünzt. Erstens: Die EU-Mitgliedstaaten müssen "Herren der Verträge" bleiben, und zwar deshalb, weil genau dies auch im Lissabon-Vertrag nicht anders vorgesehen ist. Europa ist eben kein Bundesstaat und will bisher auch keiner sein. Zweitens: Damit die Staaten "Herren der Verträge" bleiben, muss der staatliche Souverän - also das durch die Abgeordneten vertretene Volk -bei allen wichtigen Weiterentwicklungen der Verträge mitentscheiden. Ein Europäisches Parlament bliebe nach dieser Logik auch dann in einer flankierenden Position, wenn es ein wenig repräsentativer zusammengesetzt wäre.
Der Souverän ist also am Zug, das heißt: der Bundestag und in vielen Fällen auch der Bundesrat. Karlsruhe brachte in seinem Urteil zum Ausdruck, dass die Institutionen in der Vergangenheit mehr hätten tun müssen. Immerhin war es der Bundestag selbst, der das nun von Karlsruhe beanstandete Begleitgesetz verabschiedet hatte. Und so stellt sich die Frage, wer die Volksvertreter daran gehindert hätte, selbst für ihre stärkere Beteiligung an Entscheidungen der Regierung auf EU-Ebene zu sorgen, anstatt sich vom höchsten deutschen Gericht zum Jagen tragen zu lassen.
In der Lissabon-Verhandlung im Februar waren es aber gerade Abgeordnete wie Jerzy Montag (Bündnis 90/Grüne) und Gunther Krichbaum (CDU), die einen neuen, europakritischen Abgeordnetentypus repräsentierten, der - wenn er Schule machte - die Karlsruher Hoffnung auf eine parlamentarische Rückbindung der EU-Integration einlösen könnte.
Krichbaum, Vorsitzender des Europa-Ausschusses des Bundestages, schlug nach dem Urteil sogleich einen selbstbewussten Ton an: Formulierungshilfe der Bundesregierung habe der Bundestag diesmal beim Erlass des neuen Begleitgesetzes nicht nötig, "Das würde dem Geist des Urteils völlig widersprechen", sagte er.
Selbstbewusstsein werden die Parlamentarier brauchen, wenn sie künftig in der "stark regierungsgeprägten Europapolitik" (Krichbaum) mitreden wollen. Nach dem Urteil werden den Parlamentariern künftig eine ganze Reihe von Türen geöffnet, durch die sie den Einfluss der deutschen Wähler im europäischen Einigungsprozess zur Geltung bringen sollen. Es geht um eine stattliche Liste neuer Artikel im Lissabon-Vertrag, die so offen formuliert sind, dass sich damit schleichend und heimlich die Brüsseler Befugnisse ausdehnen lassen - ganz ohne ein schwerfälliges Vertragsänderungsverfahren in Gang zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher die Rechte des Parlaments gestärkt und der Bundestag wird an einigen Stellen nachbessern müssen. Im neuen Beteiligungsgesetz muss er sicherstellen, dass erst im Bundestag entschieden werden muss, bevor die Bundesregierung in Brüssel verhandeln kann.
Etwa beim vereinfachten Vertragsänderungsverfahren: Der Lissabon-Vertrag könnte durch einstimmigen Ratsbeschluss geändert werden, und zwar in zentralen Politikfeldern wie Binnenmarkt oder Wirtschafts- und Währungsunion - ein kompliziertes Ratifizierungsverfahren wäre entbehrlich. Das Karlsruher Urteil sieht daher vor, dass vor einer Zustimmung ein Gesetz notwendig ist. Laut Lissabonner Vertrag kann der Europäische Rat, etwa im Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug, den Übergang vom Prinzip der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit beschließen. In diesem Fall, bei den sogenannten Brückenklauseln, schreibt das Verfassungsgericht zwingend ein Gesetz vor, denn ansonsten verlöre Deutschland sein Vetorecht. Das bisherige Ablehnungsrecht der Parlamente reichte den Richtern nicht aus.
Auch im Strafrecht soll nachgebessert werden. Der im Vertragswerk aufgestellte Katalog grenzüberschreitender Schwerkriminalität soll nach "Lissabon" erweiterbar sein - und zwar "je nach Entwicklung der Kriminalität", lautet die wachsweiche Vorgabe. Daher fordert Karlsruhe auch für diese Blankettermächtigung künftig vor solchen Erweiterungen ein deutsches Gesetz.
Mit den Flexibilitätsklauseln kann sich die EU, so der EU-Vertrag, per Ratsbeschluss neue Befugnisse verschaffen, die erforderlich sind, "um eines der Ziele der Verträge zu erreichen". Weil dies zu unbestimmt ist, verlangt das oberste Gericht auch hier ein Gesetz. Auch beim Notbremseverfahren stellten die Richter ein Stoppschild auf. So können EU-Mitgliedstaaten den Europäischen Rat einschalten, wenn sie durch eine geplante Richtlinie grundlegende Aspekte ihrer eigenen Strafrechtsordnung berührt sehen. Eine solche Intervention soll künftig jedoch nur auf Weisung von Bundestag oder Bundesrat möglich sein.
Das alles sind Beispiele für Mechanismen des Lissabon-Vertrages, die geeignet sind, Entscheidungsbefugnisse von der nationalen in die europäische Waagschale umzuschichten und den Nationalstaat zum Leichtgewicht zu degradieren. Und zwar in einem Maße, dass der Zweite Senat mit seinem Vorsitzenden Andreas Voßkuhle und dem federführenden Richter Udo Di Fabio gerade im Strafrecht, einer aus nationalstaatlicher Sicht äußerst sensiblen Materie, nach Meinung vieler Beobachter knapp an einem grundsätzlichen Nein vorbeigeschrammt ist. Das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag ist "nach Maßgabe der Gründe" verfassungsgemäß, steht mit warnendem Unterton im Urteil. Ein demokratischer Ausweg: Wenn die im Vertrag vorgesehenen Brücken-, Flexibilitäts- und Vereinfachungsklauseln zum Einsatz kommen, werden nationale Gesetze vorgeschaltet. Das würde bedeuten, dass die Bundesregierung in Brüssel hier nicht ohne die Zustimmung des Parlaments agieren darf.
Die neue Rolle der Abgeordneten als Hüter des Nationalstaats beschränkt sich nicht aufs Verfahren. "Den deutschen Verfassungsorganen obliegt eine dauerhafte Integrationsverantwortung", schreibt das Gericht und erläutert, was es damit meint: "Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt." Ist damit ausreichender Raum zur politischen Gestaltung überhaupt noch vorhanden? Auch ohne Lissabon, argwöhnten Europagegner, werde das Allermeiste längst in Brüssel entschieden. Karlsruhe lässt sich zwar nicht auf Zahlenspiele ein - wie will man Kompetenzen messen? -, stellt aber erstmals einen Katalog der Staatsaufgaben auf, der den deutschen Volksvertretern zumindest im Kern erhalten bleiben muss: natürlich die Entscheidung über Krieg und Frieden, aber auch über Polizei, Steuern oder Staatsverschuldung.
Sogar kulturelle Fragen zählt der Zweite Senat dazu: Sprache, Familie, Bildung, Presse- und Versammlungsfreiheit, Religion. Eine stattliche Reihe von Konfliktfeldern, auf denen ein europapolitisch wachsamer Bundestag seine Rolle entfalten könnte. Dabei haben die Verfassungsrichter nicht vergessen, dass zur Staatlichkeit auch ein oberstes Gericht gehört. Und zwar eines, dass das letzte Wort hat: Im Lissabon-Urteil erneuert und erweitert das Bundesverfassungsgericht seinen Anspruch auf die Kontrolle des europäischen Rechts, jedenfalls in Fragen der EU-Zuständigkeit und bei Kollisionen mit dem Grundgesetz.
Das hatten die EU-Reformer nicht vorgesehen - das letzte Wort sollte nach ihrem Willen der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg haben. Schon im Maastricht-Urteil von 1993 hatte sich Karlsruhe aber eine solche Letztkontrolle vorbehalten. Bisher allerdings hat der Löwe nur gebrüllt - denkbar, dass er jetzt irgendwann auch beißt.